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Alt 14.05.2003, 16:05
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Standard Schwerer Abschied

Hallo,
ich habe schon einige Male hier im Forum anderen geantwortet, jetzt möchte ich aber gerne meine eigene Geschichte ganz erzählen. Ich weiß nicht, aber vielleicht hilft es mir, meine Gedanken zu sortieren.
Vergangenen Sommer ist mein Vater mit dem Auto verunglückt. Er ist frontal mit einem Lastwagen zusammengestossen und war sofort tod. Er war 61 Jahre alt. Zwei Stunden später standen zwei Polizisten und ein Seelsorger bei meiner Mutter vor der Türe, um ihr die Nachricht zu überbringen. Als ich dann dazugerufen wurde, war das erste, was sie sagte "Jetzt läßt der mich mit dem ganzen Scheiß hier alleine sitzen!". Sie meinte ihren Brustkrebs, den sie schon seit 96 hatte und der zu der Zeit einigermaßen in Schach gehalten worden ist. In den nächsten Wochen ging es für mich in erster Linie darum, meine Mutter auf eigene Füße zu stellen, ihre Finanzen zu klären und ihr beiseite zu stehen. Mein Bruder konnte nicht viel helfen, da er nicht in der gleichen Stadt wohnt. Dann dachte ich, jetzt könnte ich mich mal um mich selber kümmern, aber drei Monate nach dem Tod meines Vaters kam der Brustkrebs meiner Mutter wieder mit voller Wucht und Metastasen im ganzen Körper wieder zurück. Sie wurde immer dünner, bald konnte sie kaum noch sprechen und schlucken, weil auch die Halslymphknoten befallen waren. Sie war wochenlang im Krankenhaus, wurde künstlich ernährt. Ich fand es furchtbar, an ihrem Bett zu sitzen, ihr zusehen zu müssen, wie sie sich quälte, spuckte und würgte, und nichts für sie tun zu können, außer ihr Papiertücher zu reichen. Dann, Anfang diesen Jahres, ging es berauf mit ihr. Die Chemo hatte anscheinend angeschlagen, sie nahm zu und fasste neuen Mut. Im März sollte sie im Krankenhaus ihre letzte stationäre Chemo bekommen, wozu ihr ein zentraler Venenkatheter am Hals gelegt werden sollte, da ihre Armvenen zu kaputt waren.
Eigentlich ein kleiner Eingriff. Ich habe vormittags noch lange mit ihr telefoniert und bin abends nach der Arbeit zum Krankenhaus gefahren. Vorher hatte ich mir überlegt, dass ich sie fragen werde, ob sie Lust hat, nach dem Krankenhausaufenthalt mit mir ein paar Tage ans Meer zu fahren. Ich wollte gerne noch über viele Dinge mit ihr sprechen, bevor es zu spät ist. Als ich auf die Station kam, war ihr Zimmer abgeschlossen. Ich habe eine Schwester angesprochen, die sagte, sie würde den Arzt holen, ich solle kurz warten. Da war mir schon ganz schlecht! Der Arzt hat mir dann erklärt, dass es Komplikationen gegeben hat, es ist plötzlich zu einer enormen Blutung gekommen, der Hals ist so sehr angeschwollen, dass sie keine Luft mehr bekommen hat. Einige Minuten lang hat ihr Herz nicht mehr geschlagen, aber die Ärzte konnten sie reanimieren. Ich habe verlangt, sofort zu ihr auf die Intensivstation gebracht zu werden. Dort lag sie ohne Bewußtsein, angeschlossen an tausend Geräte. Während ich ihre Hand gehalten habe, fing sie an, ihre Arme und Beine zusammenzukrampfen. Das war kein gutes Zeichen, weil es zeigte, dass ihr Gehirn geschädigt worden ist. 5 Tage lang haben die Ärzte alles mit ihr probiert, bis sie dann gemeinsam mit mir und meinem Bruder beschlossen haben, dass es keinen Sinn macht, sie noch länger zu quälen. Sie haben also die Intensivmedizin abgestellt, einen Paravan vors Bett gestellt und meinen Bruder und mich darauf warten lassen, dass sie stirbt. Das tat sie aber nicht. 2 Wochen lang hat sie noch so dagelegen, erst auf der Intensivstation, dann auf der onkologischen Station. Den Beatmungsschlauch mussten sie drinlassen, weil ihre Luftröhre so stark verengt war, dass sie sonst erstickt wäre. Durch die Nase hat sie über eine Sonde Flüssigkeit bekommen, über Infusionen verschiedene Opiate, damit sie keinen Stress hatte. Zum Teil hatte sie über 40 Grad Fieber. Ich bin jeden Tag zu ihr gefahren, weil ich das Gefühl hatte, ich müsse aufpassen, dass die sie dort ordentlich behandeln. Andererseits habe ich manchmal gedacht, was denn wäre, wenn ich einfach eine Weile das Valium zu hoch dosieren würde, damit sie endlich sterben kann. Für diesen Gedanken habe ich mich dann aber auch wieder geschämt. In der Nacht zum 17.03. hat mich die Schwester angerufen, weil meine Mutter gestorben ist. Sie hat einfach aufgehört zu atmen. Das Gefühl, das ich dann hatte, war sehr zwiespältig. Ich war erleichtert aber auch schockiert. Ich bin ins Krankenhaus gefahren und habe noch eine Stunde an ihrem Bett gesessen. Sie sah friedlich aus, ohne diese gazen Schläuche, ihr Gesicht war nicht mehr so aufgequollen.
Seit ich das alles hinter mir habe, fühle ich mich, als wäre ich hundert Jahre alt. Plötzlich spüre ich, was ich in den letzten 9 Monaten alles auf meinen Schultern getragen habe. Meinen Vater kann ich nur ganz schwer in meine Erinnerung zurückrufen, so sehr habe ich ihn verdrängt. Und wenn ich an meine Mutter denke, dann werde ich dieses Bild nicht los, wie sie auf der Intensivstation ausgesehen hat.
Ich weiß nicht, ob es mir geholfen hat, das alles aufzuschreiben, aber ich habe die ganze Geschichte zum ersten Mal von Anfang bis Ende erzählt. Vielleicht ist ja für irgendwas gut.

Liebe Grüße und danke fürs "Zuhören",
Tina
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