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Alt 04.06.2002, 18:22
Gast
 
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Standard Sie will das ich gehe!!

Hallo Ihr alle!
Uff! Hier geht ja eine tolle Diskussion ab! Hab doch jetzt meinem Computer nur mal kurz den Rücken zugekehrt ...!

Liebe Afra, manchmal denk ich auch, dass zuerst Leid geschehen muss, um dem Menschen die Augen zu öffnen. Eigentlich ist das ziemlich dramatisch! Aber so sind wir nun mal, wir Menschen.
Wir betrachten wirklich alles als Selbstverständlich, und mit dem Thema Krankheit und Tod befassen wir uns ja kaum, weil es uns selber eben nie betrifft. Man hofft immer, dass man selber nie so was erleben muss, sieht und liest nur immer darüber, dass es ANDEREN geschieht, Schicksale und Action wie im Fernsehen oder Kino! Woaw, was für Adrenalin-Schübe! Wahrscheinlich "berührt" es uns schon gar nicht mehr, weil wir in einer Flut an Informationen und Geschichten ertrinken. Zeitungen sind voll gespickt mit Negativem, da und dort Dramas, Mord, Totschlag und Krieg, vorne und hinten Krankheit und Medizin ...
Aber man selber lebt in einer kleinen, geregelten und heilen Welt, in welcher es weder Krankheit noch sonstiges Unglück gibt. Es SIND immer nur die anderen! Man schaut auf sich, MUSS auch auf sich schauen, weil wir keine Zeit mehr haben, uns um anderes zu kümmern. ALLES sollen lieber die ANDEREN machen!
Wir lernen in keiner Schule, was es bedeutet, mit dem LEBEN klar zu kommen, mit den Mitmenschen, ... ausser vielleicht in der Religionsstunde. (Gibt es die heute noch?) Wir lernen nirgendwo, sich für andere einzusetzen und nur für sie da zu sein, sondern werden einfach irgendwann ins kalte Lebens-Wasser geworfen. All diese Erfahrungswerte FEHLEN uns meist. Und wir lernen vor allem nie, uns mit dem Leid und dem Tod auseinander zu setzen, weil es ein Tabu in dieser Gesellschaft ist. Wir leben in Zwängen, ohne es zu merken, und übersehen das Wesentliche, nämlich das LEBEN!
So eine Krebsdiagnose schockt und schüttelt uns da ziemlich heftig durch. Krebs bedeutet für uns noch immer den Tod, weil wir alle wissen, dass da die Chancen nicht besonders gut stehen. Die Angst lässt uns überreagieren, packt uns und lässt uns nicht los. Verlust-Aengste kommen auf. Für die Angehörigen und Freunde, aber auch für den Betroffenen selbst. - Man hat ganz fest das Gefühl, dass man bald ABSCHIED nehmen muss!
DESHALB sind Umarmungen jetzt herzlicher! Deshalb ist es so schwierig, darüber zu sprechen. Deshalb fragen sich alle, ob sie das Richtige tun. Deshalb bedrängen die Angehörigen die Kranken so. Deshalb haben die Kranken so verrückte Stimmungen. Deshalb ist es so schwierig, miteinander umzugehen.

Na, eigentlich doch ganz EINFACH, das Ganze, oder?
(Bin jetzt wieder krass, ich weiss!)

Afra, ich wünsche Dir ganz viel Powerkraft und Deinem Vater, dass er diese Kraft aus Dir spüren wird und sie annehmen kann, damit er bald wieder gesund wird. - Hey, umarme ihn öfters! Er hat das gern!

Hallo Li! Dein Beispiel zeigt eigentlich schon ein kleines Stück von einer dieser Erwartungshaltungen. Du bist da also bei Deinem kranken Schwager, er erzählt Dir gerade ganz locker von seiner Krankheit (ich glaube, er macht das gerne bei Dir! Würde ich auch! - Kleines Kompliment, gell?), ... und kurze Zeit später kommt Deine Schwester mit dem Mann vorbei, ... und Dein Schwager muss dann gleich alles nochmal von VORNE erzählen!
Eigentlich, so könnte man ja meinen, ist das ja nicht wirklich schlimm. IST es ja auch nicht! Aber weisst Du, trotzdem, wenn Du als Patient das immer wieder und immer wieder so erlebst, und immer wieder und immer wieder erzählen musst ..., dann bist Du eines Tages vielleicht still (hast die Nase voll!) und sagst gar nichts mehr. Oder wirst muffig. Oder wütend. Oder sagst plötzlich zu Deinen Verwandten: "Hey, was WOLLT Ihr eigentlich alle! Könnt Ihr mich nicht mal in Ruhe lassen?"

DAS ist ebenfalls eine Art Erwartungshaltung der Angehörigen. Verstehst Du, was ich meine? Das bisherige "Funktionieren" muss bei ihm noch irgendwie da sein, er hat JEDEM sofort zu SAGEN, was ihn beschäftigt, damit man ihn auch verstehen kann, (und ihn dann wieder "beruhigen" kann, weil man sich damit auch gleich SELBST noch beruhigt!), er hat noch IMMER irgendwie freundlich und fröhlich zu sein, (und ganz besonders auch STARK jetzt, denn dann kann man hinterher ganz fest stolz auf ihn sein, und auf sich SELBER gleich auch!) ...
Meist trösten sich die Angehörigen mit diesen Worten SELBST, weil sie es so haben wollen. So und nicht anders. - Aber das kommt ganz verkehrt an den Patienten heran!
Es ist ja nicht mal unbedingt der EINZELNE der Angehörigen, sondern das ... naja, Dauernde, Wiederholende, ... und alle zusammen!

Aber wie gesagt, eigentlich ist das nicht so schlimm. Der eine oder andere Patient mag dies vielleicht noch ertragen. Oder zumindest eine lange Zeit lang, weil er sich vielleicht selber nicht traut, den Mund aufzutun.
NOCH schlimmer wird es dann, wenn diese vielen Leute, die es ja gut mit Dir meinen und alles wissen wollen, Dir gute Ratschläge anfangen zu geben. Oder wenn sie anfangen, Dir "Schuldgefühle" einzupflanzen.

Ach ja, dieses Schuldgefühle einpflanzen ist ein ganz besonderes Thema. Weisst Du, die meisten Patienten fragen sich auch, WOHER dieser Krebs kommt, und ob man ihn sich den durch irgend ein blödes Fehlverhalten (ewiges Hineinfressen zum Beispiel) eingebüsst hat. Aber der Patient lässt von dieser Grübelei bald mal los und sagt sich, dass WENN es so wäre, es das nicht ALLEINE gewesen sein kann! Und er hört bald mal auf, darüber nachzustudieren, denn es bringt ja nichts, sich selber mit sowas fertig zu machen oder sich womöglich mit eigener Schuld zu belasten. Er reagiert da eigentlich in der Regel sehr weise und kann dann somit bald mit dem eigenen Lernprozess des Akzeptierens beginnen. (Das kommt von selbst. - Geht auch nicht auf Kommando!)
Das komische ist aber, dass die Angehörigen oftmals GENAU so einen Grund suchen und ihn auch schon sehr bald finden! Es könnte auch ganz ein anderer Grund sein, wie ihn der Patient selber glaubt, gefunden zu haben! - Nur ist dann da bei den Angehörigen der Unterschied: Sie GLAUBEN ganz fest daran und können diesen Gedanken überhaupt nicht mehr aufgeben!

An diesem Punkt werden sie "unterschwellig" ihre Mitteilungen dem Patienten mitteilen. So ganz lieb klingende Worte, wie: "Weisst Du mein Lieber, Du warst ja schon immer so verstockt und hast alles ganz fest in Dich hinein gefressen!"
Das GENUEGT bereits. Der Patient hat kapiert!
Er fängt an, sich schuldig zu fühlen.
Oder aber, ... er glaubt kein Wort davon und wird stinkewütend!

Ich glaube, es macht nichts, wenn man sich weniger beim Patienten meldet, so bald er mal aus dem Krankenhaus raus ist. So lange man ihm das Gefühl gibt, dass man trotzdem jederzeit für ihn da ist, oder er sich beim Angehörigen allzeit melden kann.
Hier gibt es natürlich auch wieder dieses "Ungewisse", denn das eine wie das andere kann genau so wieder ein ZUVIEL oder ein ZUWENIG sein.
Ich denke, direkte Fragen an den Patienten helfen da am besten. Zum Beispiel:
"Ist es Dir recht, wenn ich einmal die Woche anrufe?" So kann er eine Antwort darauf geben, wie es IHM am liebsten wäre. - Aber Achtung: allfällige Aenderungen jederzeit möglich!

Ich hoffe, ich habe Dir mit meinen Worten ein bisschen helfen können, Li. - Du bist schon ähnlich wie ich, das hat was! Ich nehme auch immer alles so tief in mir auf.
Bis dann, gell?

Hallo Dagmar, Du sprichst was ganz Interessantes an! Nämlich eine Art Aehnlichkeit dieses Leidensdruckes von Angehörigen durch ANDERE Leute, ... den genau auch die Patienten haben. Du fühlst da ziemlich mit! Ich hoffe, Deine Zeilen werden GUT von anderen gelesen!

Macht's gut, Ihr Lieben, bis später!
Es grüsst
die "krasse" Brigitte
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