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Alt 16.10.2002, 19:44
Gast
 
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Standard Dokumentarfilm über das Tabu Sterben

Jetzt will ich auch mal was sagen. Ich lese schon ein paar Tage in diesem Forum mit. Und weil es hier für einige wichtig zu sein scheint, ich bin weder Angehöriger noch Betroffener. Aber mein Freund mußte vor kurzem eine Operation über sich ergehen lassen. Es war eine bösartige Form von Hautkrebs, die aber so früh erkannt wurde, daß es relativ leicht entfernt werden konnte.

Trotzdem denkt er jetzt ständig über diese Krankheit nach und malt sich aus, was wäre, wenn er daran gestorben wäre. Er reagiert auch ziemlich schroff auf Leute, die sich freuen, daß es so unproblematisch mit der Operation verlaufen ist. Er reduziert seinen Freundeskreis systematisch, weil für viele unverständlich ist, in was er sich da reingesteigert hat.

Ich will hier keine Krankheit kleinreden und ganz bestimmt nicht den Krebs. Meine Großmutter ist immerhin an Krebs gestorben, sie hatte Leukämie. Glücklicherweise scheint sie die einzige gewesen zu sein, die in unserem Familienzweig so etwas hatte. Als sie es erfuhr, war sie noch relativ jung, Mitte 50. Und da war es für jede Form von Heilung schon zu spät. Aber sie tat so, als sei das alles gar nicht so schlimm. Sie liess sich nie etwas anmerken. Kurz vor ihrem Tod habe ich sie gefragt, warum sie das getan hat. Wer von ihrer Krankheit nichts wusste, hat es auch nicht gemerkt. Ihre Antwort hat mich erst erschüttert, danach aber habe ich sie glaube ich verstanden. Sie sagte, bei ihr sei es jetzt unausweichlich und das belaste sie schon, aber was würde sie selbst gewinnen, wenn sie uns, also ihre nähere Umgebung zusätzlich belasten würde? Wenn wir uns nur halb so viele Gedanken um ihre Krankheit gemacht hätten, wären wir wahrscheinlich ebenfalls sehr belastet gewesen. Hätte sie uns an allen ihren Überlegungen teilhaben lassen oder hätte sie uns täglich gezeigt, wie sehr sie diese Krankheit mitnimmt, wäre sie für uns schon tot gewesen, während sie noch unter uns war. Und sie wollte, daß wir sie in guter Erinnerung behielten. Zuerst hatte ich gedacht, sie hätte uns nicht zugetraut, damit umzugehen, inzwischen weiß ich, was sie tatsächlich wollte und bewundere sie für die Kraft, die sie dafür aufbrachte.
Aber das ist inzwischen schon lange her, das mit meinem Freund ist aber aktuell und er verhält sich genau gegenteilig. In der Folge isoliert er sich selbst immer mehr, was mich immer mehr bedrückt, weil ich nicht wirklich weiß, wie ich ihm helfen soll.

Klar, ich kann ihm zuhören, wenn er erzählen will, ich kann da sein, wenn er jemanden um sich braucht, aber er ist so von seiner Krankheit besessen, daß er gar nicht wahrnimmt, wie er seinen Freunden oder besser seinen früheren Freunden vor den Kopf stößt. Er unternimmt meiner Meinung nach nicht einmal den Versuch, sie zu verstehen. Sie bringen seiner Meinung nach nicht genügend Sensibilität für das Thema auf. Das steigert sich manchmal soweit, dass er meint, sie wollen sich alle nicht einmal mit seiner Krankheit beschäftigen und so dreht sich diese Spirale von Mißverständnissen weiter und weiter.

Ich habe Verständnis für alle, die jetzt kurz vor ihrem Tod stehen, ich verstehe sehr gut, dass dieses Ereignis ihr Denken bestimmt. Ich denke auch, daß der Tod nie ein Tabuthema sein sollte, egal ob man nun an einer Krankheit leidet oder nicht. Aber die Frage, ob man da ein Thema in den Vordergrund stellt und seine Umgebung damit belastet, wenn man seinen Krebs besiegt hat, muß doch auch erlaubt sein, oder?
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