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Alt 12.12.2003, 10:22
Gast
 
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Standard Hallo, auch wir sind betroffen

Liebe Karola,

als man mir im April 2002 als Zufallsdiagnose anlässlich einer zweifachen Bypass-OP auch noch "doppelseitiges Nierenzellkarzinom" diagnostierte, hatte ich Angst. Einfache, besch...... Angst. Jetzt, jedesmal wenn ich zu einer Nachuntersuchung o.ä. muss, habe ich "einfache, beschi..... Angst". Natürlich weiss ich, dass es das Beste und das Richtigste wäre, KEINE Angst zu haben.

Aber da ich am liebsten in Bildern spreche: Mich hat man tausende Kilometer westlich der Azoren und tausende Kilometer östlich von New York mitten in den Ozean geschmissen. Ich war dort ganz allein. Mit riesigen Wassermassen, ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich hatte keine Ahnung, wie ich da je wieder rauskommen sollte ...........etc. etc.

Und da "soll" ich keine Angst haben? Ich hatte sie. Und mit meinen 59 Jahren stehe ich dazu, dass ich Angst haben darf.

Ich versuche nur immer (das ist meine Definition)aus Angst nicht Panik werden zu lassen. Panik ist, wenn aus Angst unkontrollierte Handlungen entstehen. Aus Panik wird Kopflosigkeit und nicht mehr denken können - Ziellosigkeit. Alles ist unkontrolliert.

Und genauso sehe ich es auch bei dieser unserer Krankheit. Zuerst fühlt man sich fürchterlich allein, hilflos und so, als wäre sowieso alles zu Ende. Die Panik droht "Besitz" von einem zu nehmen. Wenn es dann gelingt, trotz und mit Angst aber gezielt nach Wegen und Massnahmen zu suchen, Hilfe zu suchen und zu finden, Entscheidungen zu treffen etc. etc. - dann ist es meines Erachtens eine "gesunde" Angst, die da sein darf und auch nicht krank macht. Krank macht m.E. vielleicht auch oder mehr das "Verdrängen" der Angst. Mit der Angst LEBEN - ohne von ihr gefressen zu werden - das war immer mein Ziel (ich hatte vor der Krebserkrankung schon jahrelang mit Angst- und Panikattacken im Rahmen von Depressionen zu tun, ich glaube für mich den Unterschied zwischen Angst und Panik, zwischen "guter" und "schlechter" Angst zu kennen. "Gute" Angst wäre es, vor dem Löwen die Flucht zu ergreifen. Flucht ist ein Naturinstinkt, der manchmal das einzig Richtige ist.) Angst ist ein Gefühl, das kommt, wie es will. Das man meines Wissens nicht einfach kontrollieren, abschalten kann. Man kann nicht einfach sagen "Geh weg - ich will Dich nicht". Man muss lernen, damit zu leben. Mit der "gesunden Angst". Vielleicht ist das Wort "gesunde Angst" auch durch das Wort "Respekt" zu ersetzen. Ich habe heute sehr viel Respekt vor meiner Krankheit. Und vor meinem Körper, der mir etwas sagen wollte und gesagt hat.

Und die "gesunde Angst" hat Euch z.B. auch hierher geführt. Auf dem Weg, um Hilfe, Rat und Trost zu suchen - und zu finden. In Panik wäre Euch das nie gelungen.

Ich habe gelernt, mit meiner Angst zu leben - mal klappt es gut - mal klappt es weniger gut. Aber ich verbiete der Angst nicht, da zu sein. Sie gehört mittlerweile zu mir, zu meinem Körper, zu meinen Gefühlen. Ich könnte meine Angst (genauso wie man es gerne mit Problemen macht) in eine "Schublade" packen - weg ist sie. Wer's glaubt. Die ist nicht weg. Die liegt da drin. Manchmal sehr lange. Keiner weiss, was sie macht. Sie arbeitet im Unterbewusstsein weiter.

Und dann, wenn man sie am wenigsten gebrauchen kann, kommt sie "als Panik" wieder ans Tageslicht. Da versuche ich lieber, mein Leben mit "gesunder" Angst zu leben. Mit Angst, die nicht im Unterbewusstsein weiter rumort, sondern Angst, die ich akzeptiere, respektiere.

Die ich aber häufig "in eine Ecke" verbanne, klein mache, der ich verbiete, mein GANZES Leben zu bestimmen. Der ich aber IHREN Platz (möglichst klein und in einer Ecke) gestatte.

Ich bin sicher, dass Ihr Eure Angst nicht zu Panik werden lasst. Dass Ihr auf Eurem Weg weitergeht. Lebt mit ihr - und arrangiert Euch mit ihr. Ich konnte meine Angst nie "abstellen" und ich habe viele Menschen erlebt, die durch diese "Abstellversuche" erst richtig in Panik geraten sind.

Genauso wie mein Wunsch "schenk mir eine Tüte Gelassenheit - aber eine riesengrosse" so leider nie in Erfüllung gegangen ist. Ich "arbeite" jeden Tag daran, und manchmal komme ich ein kleines Stückchen weiter. ERZWINGEN kann man m.E. nichts.

Und ich sollte versuchen "positiv zu denken", wenn mir das Wasser bis zum Halse steht?! Was soll daran positiv sein, habe ich mich immer wieder gefragt. Drei uralte, simple und einfache Dinge waren und sind es, die letztendlich die Säulen sind, auf denen wir leben:
Glaube - Hoffnung - Liebe.

Ich wünsche Dir und Euch viel Kraft und alles, alles Gute.

Jürgen
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