Thema: Es tut so weh
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Alt 22.06.2005, 22:43
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Standard Es tut so weh

Liebe Viv,

ich versuch jetzt einmal die Geschichte die ich Dir erzählen möchte....

meine Kindheit, so bis 10 Jahre ist mir als Idylle in Erinnerung. Dann ging es nicht schlecht, aber anders weiter. Mein Papa hatte dann nicht nur viel Erfolg, er wurde auch sehr angesehen und irgendwie hat ihn das verändert. Er war, das muß ich ehrlich zugeben in unserer Familie der Mann der Superlative. Er war der Begabteste, der Erfolgreichste, der Angesehenste, der Vielseitigste usw. usw. und er war sogar der Schönste. All das war uns und vor allem auch ihm bewußt. Mehr und mehr wurde er ein padre padrone. Ich war viel weg, Schule, Ausland. War sehr stolz auf ihn, meinen tollen Papa.

Je älter ich wurde, desto kritischer sah ich ihn. Ich merkte wie er Mama ausnutzte, anders kann man es nicht sagen, für alle Arbeiten, die er nicht machen wollte. Mama hatte eine absolut romantische Vorstellung von der Liebe. Sie liebte die italienische Oper, das Leben ist anders. Sie war immer eine liebe Mama gewesen und als erwachsener Mensch kamen wir einander immer näher, obwohl ich viel weg war. Wir haben, ohne Übertreibung ,tausende Briefe gewechselt, hunderte Bücher gemeinsam gelesen, sind dann auch viel verreist, ich habe mich in ihrer Nähe am wohlsten gefühlt. Als ich noch älter wurde, war mir klar, daß sie mein Lebensmensch ist und das sage ich heute noch so.

In den letzten zwei Jahrzehnten war ich immer so ca. ein halbes Jahr in dem Ort, in dem meine Eltern lebten. Neben meiner Arbeit hab ich ziemlich viel bei ihnen mit gearbeitet.Hauptsächlich, weil ich nicht wollte, daß Mama so viel macht. Da mein Anteil an der Arbeit immer mehr wurde, kam es so, daß nach außen hin nicht nur er der Macher war, ein bißchen auch ich. Man könnte meinen, daß ihn das freute. Aber nein, es kam eigentlich nie ein Wort, daß ich es gut mache, usw.

Manchmal, wenn er und ich in einem Raum saßen, dachte ich, warum finden mich andere Menschen manchmal interessant und er nicht? Was weiß er von mir? Ich kenne jedes Buch, das er hat, weiß, welche Musik er mag, kenne seine Vergangenheit so gut, daß ich sie besser erzählen könnte als er , will auch gerne alles wissen von ihm. Da sitzt er, mein Papa, da sitz ich, seine Tochter und er schmettert meine Annäherungsversuche nicht grob ab, aber er verweigert sich mir.
Dann dachte ich, vergiß es nicht Briele, vergiß nicht,daß es nicht an dir lag, wenn er tot ist und manches ungesagt geblieben ist.

Unser Familienleben war angenehm, wir fanden uns nämlich alle sympathisch, wir konnten uns aufeinander verlassen und wir hatten denselben Humor.
Papa war unglaublich charmant. Freunde, Bekannte, die mich besuchten, waren hingerissen von ihm. Er preßte sie zwei Tage lang aus wie eine Zitrone, am dritten fragte er mich wann sie wieder abreisen, am Abend des dritten ließ er sie merken, daß er nun genug hat. Bei meiner Mama war es so, daß alle meine Freunde/innen sie nach dem dritten Tag bis ans Ende ihres Leben liebten.

Viv, während ich schreibe, weiß ich gar nicht ob ich das abschicke. Seit ich im Forum schreibe wird mir täglich bewußter, daß ich im Grunde genommen ein Riesenglück hatte und eher maßlos bin in meinen Wünschen und Vorstellungen.

Aber ich will jetzt endlich zu der Sache mit dem Gewissen kommen:

Mehr und mehr verspürte ich den Wunsch mit meiner Mama alleine zu leben.Es gab svo vieles was wir gerne gemeinsam machten, wir lebten gerne zusammen. Klarer gesagt, mehr und mehr wünschte ich mir für Mama ein anderes Leben. Ein selbstbestimmtes. Ein Leben, das für sie nur möglich wäre ohne Papa. Dieser Gedanke wurde immer mächtiger. Scheidung war nicht einmal denkbar. Ich habe nicht mit Mama über diese Gedanken gesprochen. Es beschwerte mein Herz, daß ich mir wünschte, es möge so sein, daß er vor ihr stirbt.

Dann starb Mama. In den letzten Wochen ihres Lebens meldete er sich in einem Seniorenheim an. Ich dachte mir bricht das Herz. Die Mama stirbt, der Papa geht ins Heim, alles zerbricht. Es war die Hölle. Das Heim war in der Stadt, in der wir lebten, als ich Kind war. Sehr bald stellte sich heraus, daß er die richtige Entscheidung getroffen hatte, daß es auch für mich gut war. Wenn ich in seiner kleinen Wohnung war, dann fühlte ich mich daheim. Er lebte noch fast drei Jahre und es geschah etwas Unglaubliches. Von Anfang an hatten wir ein liebevolles, zärtliches, aufmerksames Verhältnis. Der Kreis hatte sich geschlossen, ich hatte wieder meinen lieben Papa. Wir nutzten die Zeit.

Nun hatte ich natürlich einen neuen, schweren Gedanken. Papa und ich konnten das nur haben weil Mama tot war.

Es hat wirklich einige Zeit gedauert bis ich mir alle Gedanken verziehen habe. Heute sehe ich es als Glück, als Gnade an, daß für meine Eltern und mich alles gut zu Ende gelebt werden konnte. Ich sagte zu Mama immer, du bist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist und sie empfand es auch so. Sie hatte über eine lange Zeit meine uneingeschränkte Liebe und es kam so, daß durch ihren Tod zuerst die Lebensumstände von Papa geändert wurden, dann er selbst und ich wohl auch.

Soll ich das jetzt abschicken und was kann es Dir sagen?

Vielleicht, daß man alles denken darf.

Alles Liebe, Viv
Briele
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