Thema: Es tut so weh
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Alt 16.06.2005, 20:11
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Standard Es tut so weh

Hallo Ihr Lieben,

wenn ihr ein bißchen zusammenrückt, habe ich auch noch Platz auf der 'Couch'.

Kerstin, ich finde deine Haltung bewundernswert. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich es ist, das 'Partei-ergreifen' abzuschütteln, zumal, wenn man über Jahre hinweg darauf konditioniert wurde. Ist es nicht immer "Wenn du mich liebst, hältst du zu mir, wenn du nicht zu mir hältst, liebst du mich nicht" was da im Hintergrund steht? Emotionale Erpressung.Es geht ja nicht um sachliche Argumente, wo man eine Position beziehen könnte, sondern um Grundsatzentscheidungen für den einen oder den anderen. O-Ton meiner Mutter: "Du hilfst ja jetzt zu deinem Vater...". Und das, nachdem sie mich von klein auf zu ihrer Verbündeten herangezogen hatte (nicht ohne mir immer wieder zu sagen, ich sei wie mein Vater, also so ziemlich das letzte...). Nun ist mein Vater tot, und ich bereue bitterlich, daß ich nicht viel früher und viel öfter "zu ihm" geholfen habe.
Ich denke, du hast dich in dieser Angelegenheit von deinem Gefühl leiten lassen und das war richtig so. Wenn deine Mutter damit nicht klarkommt, ist das ihr Problem. Sie ist neurotisch, du hast Größe und Herzensgüte gezeigt.

Mein Vater ist vor zehn Wochen gestorben, sein Todesurteil hat er Anfang Januar bekommen. Ich habe in den letzten Monaten so viel Zeit damit verbracht, über die Strukturen in unserer Familie und meine Eltern nachzudenken, wie nie zuvor. Ich kann mir vieles rational erklären, aber das hilft mir zur Zeit nicht viel. Ich hadere mit meiner Mutter (ohne, daß ich ihr schuld geben könnte, sie ist halt so, wie sie ist), aber ich hadere auch mit mir selbst.

Meine Eltern waren über 40 Jahre verheiratet. Und seit ich denken kann, hat meine Mutter diese Liaison als den größten Fehler bezeichnet, den sie in ihrem Leben gemacht hat. Nach seinem Tod hat sie, glaube ich, das erste Mal etwas Gutes über ihn gesagt. Nachdem sie ihn fast sein halbes Leben lang behandelt hat, wie den letzten Dreck (entschuldigt diesen harten Ausdruck), hat sie sich in den letzten Wochen seines Lebens rührend um ihn gekümmert Das ist das traurige an der ganzen Geschichte: im Grunde ihres Herzens ist sie ein großzügiger und hilfsbereiter Mensch ist, der ohne nachzudenken sein letztes Stück Brot mit einem dahergelaufenen Fremden teilen würde. Sie ist sich selbst ihr größter Feind. Alles ist negativ, kein Mensch gut genug für sie. Deswegen hat sie auch keine Freunde (wollte sie nie) und seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr zu ihrer einzigen Schwester. Ich habe zwei Cousins und eine Cousine, die ich nie kennengelernt habe.

Mein Vater war ein sehr passiver Mensch. Hat seine Existenz mehr oder weniger klaglos am Rande unserer Familie geführt. Hat nie viel geredet. Wurde nie viel beachtet. Auch nicht von uns, seinen Töchtern. In den zehn Wochen, die ihm nach seiner Diagnose noch geblieben sind, war er das erste Mal der Mittelpunkt unserer dysfunktionalen Familie.
Seine Hand zu halten, stundenlang, war für mich vielleicht genauso tröstlich wie für ihn. Jahrzehntelang haben wir uns bestenfalls die Hände geschüttelt, wenn ich kam oder ging.
In den letzten zehn Wochen seines Lebens habe ich ein innigeres Verhältnis zu meinem Vater entwickelt, als ich mir das je hätte vorstellen können. Die Zeit war zu kurz. Für ihn. Für mich. Für uns beide.
Ich tröste mich damit, daß ich alles gut gemacht habe in dieser Zeit. Für ihn und für mich. Aber ich hadere mit mir, daß ich mich nicht schon viel früher anders verhalten habe.

Jetzt hör ich besser auf, hoffe all das klingt nicht zu verworren, ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was mir so im Kopf rumgeht...

Briele, ich wünschte, ich hätte deine Weisheit, Klarheit und Großherzigkeit... (nein... eigentlich wünschte ich, ich hätte jemanden wie dich als Mutter gehabt. Unvorstellbar, was aus mir hätte werden können... ;-))


Danke fürs zuhören und für den Platz auf der Couch. (((((euch alle))))

Ingrid
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