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Alt 03.01.2006, 11:02
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AndreaS AndreaS ist offline
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Registriert seit: 09.02.2005
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Standard AW: Meine liebe Frau hat mich verlassen

Lieber Jürgen,

Du fragst, ob ich genauso denken würde, hätten wir keine Kinder. Wahrscheinlich nicht. Es ist mein Rettungsanker, der mir erlaubt, mein Leben in die Vergangenheit zu richten und ein wenig in die Zukunft zu blicken. In unseren Kinder lebt ganz viel von meinem Mann weiter, das ist einerseits sehr hilfreich, nimmt mir allerdings auch die Möglichkeit egoistisch zu sein. Sogar meinen Schmerz kann bzw. will ich nicht immer dann ausleben, wenn er mich überkommt, mit Rücksicht auf die vier, die selbst verwundet und in höchstem Maße irritiert sind, weil nichts mehr ist wie es ist.

Ich wollte auch Dir nicht zu nahe treten, habe wohlmöglich etwas empfindlich reagiert, vielleicht weil ich gerade – sehr zur Freude eben meiner Kinder – für das neue Jahr als einzigen Vorsatz beschlossen hatte: Im neuen Jahr möchte ich, dass es mir wieder besser geht. Deine Aussage hat mich ein wenig irritiert, vielleicht weil ich mich wegen dieses Vorsatzes angegriffen gefühlt habe. Ich habe erlebt, dass irgendwie jede Art zu trauern „kritisiert“ wird. Und das macht mich wütend. Als es mir nach drei Monaten „immer noch schlecht“ ging, wurde es kommentiert, dass es doch nun mal endlich genug sein müsste. Wenn die Musik laut lief, wenn Besuch da war und in unserem Haus gelacht wurde, hieß es „ach, denen geht es ja schon wieder gut, nach soooo kurzer Zeit. Wie es in einem Menschen aussieht, ganz innen in seiner Seele. Keiner weiß das!

Einmal ist genug! Das fühle ich ganz genauso. Was ich für mich u.a. auch überlegt habe ist die Tatsache, dass auch mein Mann keine Chance hatte. Er hat gekämpft, hat den ganzen Scheiß über sich ergehen lassen, um zu LEBEN. Sie sind den Weg tapfer gegangen, der leider für sie bestimmt war. Dürfen wir es jetzt achtlos wegwerfen, das Leben, um das sie gekämpft haben?

Ich versuche zu beschreiben, was ich denke. Es mag etwas abgedreht klingen, zusammengefasst, was ich mir nach 1 ½ Jahren Lektüre für mich rausgepickt habe. Es war keine Strafe, dass unsere Lieben gehen mussten. Wofür sollten sie bestraft werden. Mein Mann hat ein liebevolles, fürsorgliches Leben geführt. Es gibt keinen, wirklich keinen Grund, dass er hätte bestraft werden müsste. Was ich denke ist, dass er bereits weiter war an Erkennen. Es hat gereicht. Er hat seine Aufgabe erfüllt. Dass ich noch lebe ist keine Belohnung (fühlt sich auch ganz bestimmt nicht so an) Mein Job ist es, jetzt das Beste daraus zu machen. Weitergehen, ohne ihn. Seine Lebensphilosophie nicht zu verraten, unser Leben nicht zu verraten. Stärker zu werden, durch den Verlust. Und die Liebe in mir zu tragen, die er mir gegeben hat. Und seltsamer Weise habe ich die Liebe zu ihm niemals zuvor so intensiv und absolut empfunden wie während seiner Krankheit und jetzt nach seinem Tod. Vielleicht, weil nichts mich ablenken kann, weil kein Alltag sich wichtig dazwischengeschoben hat. Er war und ist das Wichtigste in meinem Leben. Und hin und wieder fühle ich sie so stark, diese Liebe, seine und meine Seele vereint, ohne die natürliche Distanz durch zwei verschiedene Körper.

Vielleicht liegt auch eine Aufgabe für uns darin, Menschen in ihrem Schmerz nicht alleine zu lassen. Wie oft begegnen dir Leute, die verstehen? Mir eigentlich nie. Nur hier. Und wenn ich Gerhards Schmerz lese, fühle ich, was in ihm vorgeht. Ich kenne diese Leere, diese Sinnlosigkeit diese schreckliche Sehnsucht, die Dich fast auseinanderreißt. Und ich habe Angst, dass keiner da sein könnte, der ihm die Hand reicht, der ihn annimmt mit seinem Schmerz und seiner Sehnsucht. Und ich hoffe, dass er die Kraft findet, die Todessehnsüchte zur Seite zu schieben, weiterzugehen, für seine Frau, mit seiner Frau, die um das LEBEN gekämpft hat. Und es macht mir Angst, wenn seine Todessehnsüchte noch bestärkt werden, obwohl ich sie absolut nachempfinden kann.

Ich habe mir schon öfter überlegt, mich hier auszuklinken. Dem Forum den Rücken zu kehren, zu viel Schmerz, zu viel neuer Kummer auf meinen Schultern. Aber dann erinnere ich mich an meinen Anfang dieses Weges, meine Verzweiflung, meine Gedanken an die Tabletten, die ich noch immer im Schrank habe und denke, und ich bleibe da, so wie andere da geblieben sind, um mir die Hand zu reichen, um mich wissen zu lassen: All diese Gefühle, all deine Wut und Verzweiflung, ich kann sie verstehen. Lasst uns gemeinsam versuchen, einen Weg aus diesem Loch zu finden. Ich empfinde es als eine meiner neuen Aufgaben in diesem mir sehr verhassten neuen Leben. Von dem einmal ganz abgesehen, dass ich es selbst noch sehr stark brauche, diesen Austausch mit Menschen, die wissen. Mit Menschen, die mich von diesen „Sprüchen, die die Welt nicht braucht“ verschonen.

Ich denke, wir müssen ihn annehmen, diesen unerträglichen Schmerz, versuchen, an manchen Stellen das Schreckliche zu verwandeln in aktive Hilfe.

Wirr, ich hatte es ja angedroht…

LG
Andrea
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Που να 'σαι τώρα που κρυώνω και φοβάμαι
και δεν επέστρεψες
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