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Alt 20.11.2005, 02:03
Norma Norma ist offline
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Standard AW: Eine kleine Einstimmung für Weihnachten an alle

MELVINS STERN


Melvin war ein Engel.
Kein besonders bedeutender Engel. Er saß nicht zur rechten Hand Gottes.
Wenn alle Engel sich versammelten und sich niedersetzten, um Gottes Wort zu vernehmen, blieb Melvin im Hintergrund stehen.
Melvin stand da mit Eimer und Besen und wartete.
Und wenn er irgendwo ein Stäubchen entdeckte, rannte er gleich hin und kehrte es in seinen Eimer.
Es war keine besondere Aufgabe, wirklich nicht. Engel sind schrecklich sauber. In tausend Jahren konnte es einmal vorkommen, dass einmal eine kleine Feder von irgendwo herabschwebte. Aber Melvin war sofort zur Stelle und kehrte sie auf.
Er wäre ja eigentlich lieber Wolkenwäscher gewesen.
Oder noch lieber.... Sternputzer.
Jedes mal, wenn am himmlischen Anschlagbrett eine freie Stelle angezeigt wurde, war Melvin als erster da.
Aber wenn er dann den Wolkenschrubber nehmen und die Wolken abschrubben sollte, war das Ding so groß, dass Melvin selbst unter die Borsten geriet und geschrubbt wurde.
Und auch die Putztücher der Sternputzer konnte Melvin kaum hochheben.
Wenn es ihm einmal gelang, dann blähte sich das Riesentuch auf und hüllte ihn in seine großen weichen Falten, so dass er überhaupt nicht mehr zu sehen war.

Aber Melvin gab nicht auf. Und eines schönen Tages - wer hätte das gedacht - war er nicht nur als erster da, um sich zu bewerben.
Er war sogar der einzige.
“Was denn, bin ich zu früh?“ fragte Melvin den Engel vom Dienst.
Der Engel vom Dienst sah gar nicht vom großen Hauptbuch auf, sondern schrieb weiter, Zeile für Zeile, mit dem großen Federstift.
„Nein“, sagte er.
“Oder bin ich zu spät?“ fragte Melvin.
Der Engel vom Dienst malte den Querstrich des Buchstabens T und setzte einen Punkt auf das i.
“Du bist rechtzeitig gekommen“.
Er hielt Melvin ein Putztuch hin.
“Geh zehn Millionen Meilen in westlicher Richtung und dann einen Schritt nach links. Da findest du den Stern, dem du zugeteilt worden bist“.
Melvin traute seinen Ohren kaum.
Er war Sternputzer geworden.
Und seinen Augen wollte er auch nicht trauen: Das Putztuch hatte genau die richtige Größe für seine Hände.
“Es ist nur ein sehr kleiner Stern“, sagte der Engel vom Dienst.
“Willst du die Arbeit übernehmen?“
“Oh ja, natürlich!“ rief Melvin.
“Gut. Alle anderen haben nämlich abgelehnt“.
Es war auch wirklich kein Stern, mit dem ein Sternputzer viel Aufsehen erregen konnte. Er war schon sehr, sehr klein und glänzte nur matt.
Aber er war alles, was Melvin sich je gewünscht hatte.
Er putzte seinen Stern morgens und nachmittags.
Und spät abends, wenn die anderen Sternputzer ihre Poliertücher schon weggelegt hatten, wischte und rieb Melvin immer noch weiter. Wenn er dann schließlich nach Hause gehen wollte, konnte er sich kaum losreißen.
Immer wieder kam er zurück und wischte noch einmal mit dem Ärmel über den Stern.
Und ganz allmählich, nach und nach, viele Tage, viele Jahre, vielleicht zweitausend Jahre später, fing Melvins glanzloser Stern zu glänzen an.
Der Himmelsstrich, wo er stand, war früher finster und unheildrohend gewesen. Nun wurde er heller und freundlicher. Melvin war bei seiner Arbeit so froh, dass die Zeit verging wie im Fluge. Und er hätte auch bestimmt nichts von dem großen Wettbewerb erfahren, wenn sein Freund Gamaliel ihn nicht besucht hätte.
Aber Gamaliel kam zu Besuch, und als er sah, wie Melvins Stern glänzte und funkelte, sagte er:
“Du solltest dich mit deinem Stern an dem großen Stern-Wettbewerb beteiligen, Melvin“.
Melvin sah sich nach seinem Stern um. „Er ist sehr klein für einen Wettbewerb“.
“Von groß oder klein war nicht die Rede“, sagte Gamaliel.
“Du hast da einen sehr schönen, strahlenden Stern, Melvin“.
“Das stimmt“, sagte Melvin.
Diesmal war Melvin aber nicht der erste in der Reihe.
Nein, er war der Aller-Allerletzte. Vor ihm standen die großen Sternputzer-Engel, einer immer noch größer und mächtiger als der andere.
Und jeder trug einen riesengroßen, leuchtenden Stern.
Gamaliel stieß Melvin mit dem Ellenbogen an.
“Vielleicht hätten wir doch nicht herkommen sollen“, flüsterte er.
“Größe allein macht's nicht“, sagte Melvin, und rieb über seinen Stern.

Die lange Reihe der Sternputzer rückte langsam vor und zog an Gottes Thron vorbei.
Und bei jedem der großartigen, glitzernden Sterne, die ihm vorgeführt wurden, schüttelte der Herrgott den Kopf.
“Nein, nein“, sagte er. „Das ist nicht der richtige für einen Geburtstag“.
Schließlich war nur noch Melvin übrig.

Aber gerade in dem Augenblick, als Melvin mit seinem Stern vor den Herrgott treten wollte, erscholl ein Trompetenstoß.
Der Himmel erzitterte, und die Engel erhoben mutlos die Hände.
Der Erzengel Gabriel war gekommen, um sich mit seinem Stern an dem Wettbewerb zu beteiligen. Und der Erzengel Gabriel gewann jeden Wettbewerb.
Mit seiner großen, goldenen Trompete in der rechten Hand und dem prachtvollen Stern in der linken, schritt Gabriel durch die Reihen der Engel.
Er hielt Gott seinen Stern hin, und der Stern blitzte und funkelte in allen Farben, die es je gegeben hatte und die es je geben würde. Dann trat Gabriel zurück und wartete darauf, zum Sieger ausgerufen zu werden.
Aber der Herrgott, der alles sieht, sah Melvin dastehen und warten.

“Der Wettbewerb ist noch nicht abgeschlossen“, sagte er.
“Komm, Melvin. Zeig mir deinen Stern“.
Melvin trat vor und hielt seinen Stern hoch.

Und Gott sah zu dem Stern herab, der ruhig und freundlich strahlte, und er nickte ein paar Mal und lächelte.
Dann sagte er: “Du hast es verstanden Melvin.
Das ist der richtige Stern“.
Alle Engel im Himmel jubelten und Gabriel ließ seine goldene Trompete erschallen.

“Komm mit mir“, sagte der Herrgott.
Melvin fasste seinen Stern fester und lief hinter dem Herrgott her, der quer durch den Himmel schritt.
Ab und zu sah der Herrgott sich um und betrachtete Melvins Stern und sein warmes freundliches Licht.
“Doch, der wird ihm gefallen“, sagte er.
“Der wird ihm bestimmt gefallen“.
Schließlich blieb der Herrgott vor einem dunklen, weiten Wolkenloch stehen.
“Stell ihn hierher, Melvin. Ja so. Genau so“.

“Wie gut er dahin passt“, sagte der Herrgott. „Sein Licht macht alles froh, was er bescheint. Sieh nur, Melvin. Sieh nur“.
Melvin gab seinem Stern noch einen letzten Wischer mit dem Ärmel. Und dann, während der Stern noch strahlender und heller aufleuchtete, sah er hinab - auf die kleine Stadt Bethlehem.
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