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Alt 07.09.2006, 09:30
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SiHa SiHa ist offline
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Standard AW: Dein ist mein ganzes Herz...

Im März d.J. lag noch Schnee, viel Schnee. So viel Schnee, dass ich mich am Sonntagabend auf dem Krankenhaus-Parkplatz mit meinem Auto festgefahren hatte. Eine ältere Frau musste mich anschieben, damit ich überhaupt vom Parkplatz kam. Die Straßenverhältnisse waren auch nicht besser. Wahrscheinlich war es ein Wetter, bei dem man besser mit seinem Arsch und seinem Auto zu Hause bleibt. Aber ich konnte nicht. Ich war schon das Wochenende nicht da gewesen. Du hast gesagt, ich soll –egal was passiert- den Wellnesstrip mit R. nicht absagen. Auf keinen Fall. Und so bin ich am Freitag an die Ostsee gefahren – und am Sonntag gleich ganz, ganz schnell zu Dir. Das ganze Wochenende hatte ich mir schon Sorgen und Gedanken gemacht und mich auch z.T. geärgert, weil Du Dich nicht bei mir so häufig wie sonst per sms gemeldet hast. Am Montag hab ich mir dann vorsichtshalber den Viano aus der Firma genommen und bin dann nach der Arbeit schnell zu Dir in die Wohnung gefahren. Ich habe Deine ganze Wäsche geholt, um sie Dir zu waschen und zu bügeln. Ich dachte, dass Du ja frische Sachen brauchst, wenn Du zu mir nach Hause kommst. Ja, das hast Du mir am Sonntag gesagt. Ich will nach Hause. Ich will zu Dir. Ich will nicht mehr im Krankenhaus sein. Es bringt nichts mehr. Ich werde immer schwächer. Und ich habe gesagt: Klar, kein Problem. Das kriegen wir hin. Als ich dann am Montag zu Dir ins Zimmer kam, lagst Du da wie ein kleines Häufchen Elend. Ich wollte es nicht glauben. Ich wollte einfach nicht. Ich habe es auch nicht geglaubt, als P. mir am Abend zuvor sagte, dass Du nicht mehr aus dem Krankenhaus raus kommst. Ich habe geweint und mir gedacht: Das werden wir ja noch mal sehen! Ich habe auch nicht richtig hingeschaut, wie Du Dich am Sonntagabend von Deinem Bruder verabschiedet hast. Du hast ihn so sehr gedrückt, wolltest kaum loslassen und hattest Tränen in den Augen. Ich habe auch nicht kapiert, warum Du mich danach beim Abschied so geküsst hast. Ich hatte richtig Schmetterlinge im Bauch – so gefühlvoll und leidenschaftlich war der Kuss. Ich hab mich so gefreut darüber. Ich frage mich immer wieder, warum habe ich es nicht gesehen? Warum habe ich das alles nicht richtig gedeutet? Selbst als der Arzt mich am Montag abfing, um mir mit zu sprechen. Warum Du nach Hause willst. Ob ich das wirklich schaffe. Was er denkt, wie viel Zeit Dir bleibt. Ich habe nur einen Gedanken im Kopf gehabt: Das werden wir ja noch mal sehen. Lass ihn erstmal nach Hause kommen, dann päppel ich ihn auf. Richtiges Essen, gesunde Getränke und viel, viel Liebe. Das wird schon. Alles kein Problem.
Und dann bekam ich Angst. Als ich merken musste, dass Du gar keine Kraft mehr hast. Du wolltest unbedingt aus dem Zimmer raus und es ging nur noch im Rollstuhl. Ich habe Dich kaum da rein gehievt bekommen. Du konntest Dich nicht richtig auf den Beinen halten. So schwach. Da dachte ich das erste Mal: Wie soll ich das zu Hause machen? Im 1. OG? Wie sollst Du morgen da hoch kommen? Wie Dich in der Wohnung bewegen? Wie aus dem niedrigen Bett kommen? Wie, wie, wie?
Wir sind dann auf den Flur raus. Ich hab Dir durchs Fenster den Viano gezeigt. Er war doch Dein Lieblingsauto. Ich hab, glaub ich, noch gesagt, dass wir uns den auch mal wieder ausleihen können, um ne kleine Ausfahrt zu machen. Irgendwohin. So wie im letzten Jahr. Ostsee, Nordsee, Mecklenburg, Niedersachsen – jedes Wochenende – soweit möglich – unterwegs. Was zusammen erleben. Gemeinsam spazieren gehen. Sich unterhalten. Zusammen lachen. Ich hatte das Gefühl, Du siehst den Wagen gar nicht richtig. Komisch…
Ich habe mich dann auf eine Bank gesetzt und den Rollstuhl mir vis-a-vis geschoben. Ich habe Dir meine Bedenken wegen dem Bett mitgeteilt und Dich gefragt, ob ich noch schnell heute abend mit Deinem Bett tauschen soll. Einfach noch ein paar starke Männer anrufen und die Betten in unseren Wohnungen tauschen. Wir wollten doch sowieso Dein Bett in unsere zukünftige, gemeinsame Wohnung nehmen. Du wolltest das nicht. Hast gesagt, das geht auch so. Bloß keine Umstände. Wie immer. Bloß niemanden zur Last fallen. Am wenigsten mir. Mir bloß keine Sorgen bereiten und halt keine Umstände machen. Ich weiß noch, dass ich Dir dann meinen Kopf auf den Schoß gelegt habe und Du dann Deinen Kopf auf meinen. Es war so schön. Ich möchte diesen Moment festhalten. Ihm zurufen: Bleib, bleib doch noch ein bisschen! Für mich! Für meine Seelenqualen. Nur damit ich nicht vergesse, wie es sich anfühlt. Wie Du Dich anfühlst. Wie Deine Wärme ist, Dein Geruch.
Dann – dann.. begann der Schicksalslauf. Auf einmal musstest Du zur Toilette. Mit dem Rollstuhl… mmh, also ein Behinderten-WC. Wo ist denn hier eins? Ah, im Keller beim Röntgen hattest Du mal eins gesehen. Wir sind dann also mit dem Aufzug runter gefahren. Aber Du hast es nicht alleine geschafft und ich hatte auch nicht die Kraft, Dich aus dem Rollstuhl zu heben. Ich habe einen Pfleger zu Hilfe gerufen. Als wir Dich dann wieder rausholen wollten – ich hatte Dich gerade unter die Arme gepackt zum Hochhelfen – fiel Dein Kopf auf meine Schultern. Deine Augen waren so verdreht und Dein Mund sah auch irgendwie anders aus. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie haben wir Dich schnell in den Rollstuhl geschmissen. Der Pfleger ist los gelaufen, um Hilfe zu holen. Ich habe gedacht Du erstickst mir und habe versucht irgendwie Deinen Kopf zu überstrecken und dabei mit der anderen Hand versucht den Rollstuhl zu fahren. Blitzschnell waren ganz viele Schwestern und eine Trage da. Wir haben Dich dort gelagert und dann sind sie mit Dir in einen der Untersuchungsräume gefahren. Schnell an die Geräte angeschlossen und dann erstmal versucht zu erklären, woher wir sind. Welche Station? Warum hier unten? Waren Sie beim Röntgen? Nein, nein. Wir haben nur eine Toilette gesucht. Wir sind von 44b. Du warst die ganze Zeit total weggetreten. Dann kam schon Dein Stationsarzt von oben angelaufen und hat sich kurz mit dem Röntgenarzt unterhalten. Dann haben mich beide zur Seite genommen und mir gesagt, dass sie dich jetzt gerne gehen lassen würden. Sie seien ein humanes Krankenhaus und sehen in Deinem Fall keine andere Lösung mehr. Was? Was, was? Was? Jaja. Völlig überrumpelt, verwirrt und überfordert. Aber irgendwie doch ruhig. Ich habe auch noch gedacht, dass die jetzt eine von Dir unterschriebene Vollmacht sehen wollten und dachte nur: Wo ist die denn? Ich wusste, ich habe Dir das Formular vorbereitet gegeben und Du wolltest sie mit Deinem Bruder durchgehen. Ich muss also ganz schnell Deinen Bruder anrufen und Bescheid sagen. Ja – aber versuch mal aus einem Röntgenkeller mit dem Handy zu telefonieren…. Ging nicht wirklich. Es dauerte Ewigkeiten für mich bis ich überhaupt an seine Telefonnummer kam und dann von einem Stationstelefon anrufen konnte. Was sag ich ihm bloß? schoss es mir immer wieder durch den Kopf. Ich habe dann wohl so was wie, komm mal lieber her, es geht ihm nicht so gut und -ganz nebenbei – hast Du die Vollmacht gesehen? Nein, nicht. Okay. Ich hab in dem Moment gar nicht kapiert, dass sie keine Vollmacht brauchen. Das sie Dich einfach auch so gehen lassen werden. Ich weiß nicht wieso, aber ich hatte mich total darauf versteift….
Derweil hatten die Schwester auf Deiner Station ein Einzelzimmer für Dich vorbereitet. Wir sind dann mit Dir nach oben gefahren. Langsam wurdest Du etwas wacher. Hoffnung?! Ja, ein wenig Hoffnung kam wohl wieder. Vielleicht auch ein kleines: Das werden wir ja noch mal sehen! Du hast versucht zu sprechen, aber man konnte Dich so schwer verstehen. Irgendwann klickte es beim Arzt und mir: Keine Luft. Ich bekomme keine Luft. Es war so schrecklich.
Du hast eine Sauerstoffbrille bekommen und sagtest dann immer noch: Keine Luft. Keine Luft. Sauerstoff wurde höher und höher gedreht. Ich habe dann noch das Fenster auf Kipp gestellt. Dann kam: Schmerzen. Schmerzen. Der Arzt hat Dich dann ans Morphin angeschlossen und Dir gesagt, dass Du sagen musst, wenn die Dosis höher gedreht werden soll. Du hast verstanden, was er Dir damit sagen wollte. Deine medizinischen Kenntnisse waren so gut, dass Du es ganz genau gewusst hast. Ich auch. Wie heißt es so schön: Abschießen. Einfach abschießen.
Ich saß die ganze Zeit an Deinem Bett, habe Deine Hand gehalten und Rotz und Wasser geheult. Ich habe mich vor Dir geschämt, weil ich mich nicht im Zaum halten konnte und hab immer irgendwas von Erkältung oder Allergie gefaselt. Ich wollte nicht, dass Du Dich noch zusätzlich um mich sorgen musst. Irgendwann – ich weiß nicht wann, ich hatte mittlerweile das Zeitgefühl verloren- kamen dann A. u. P. Dein Bruder hat erst gar nicht kapiert, was los ist. Wollte den Arzt sprechen, war so ein bisschen agro oder überheblich oder .. ich weiß nicht was. Als es nun auch bei ihm gesackt war, hat er sich auf Deine andere Seite gesetzt und Deine Hand gehalten. Ich habe Dich gefragt, ob Du gerne Deinen Engel und Deinen Stein (die hattest Du immer mit im Krankenhaus) in der Hand halten möchtest. Du hast genickt. Also habe ich sie aus dem Nachttisch genommen und sie in unser beider Hände gelegt. Ich sagte noch: So ein schöner Engel, nicht? Du hast den Kopf geschüttelt und gemurmelt, dass der andere Engel der schönere sei. Du meintest damit den Schutzengel von mir. Den, der für unsere Liebe, unsere Beziehung in dieser besch… Zeit stand – und für mich noch heute steht. Ich sagte dann, dass ich Dir diesen Engel (er stand zu Hause) morgen mitbringen würde, damit Du ihn siehst. Zwischenzeitlich wurde immer mal wieder ein wenig die Morphindosis auf Deinen Wunsch hin erhöht. Zweimal hast Du noch mit mir gesprochen. Du hast mich gefragt, wie wir das alles schaffen. Und ich habe Dir geantwortet: Wie immer, mein Schatz, wie immer. Mit einem Lächeln auf den Lippen und mit Leichtigkeit.
Irgendwann hab ich mir dann ein Herz genommen. Ich habe es schon tagelang mit mir rumgeschleppt und mich nicht getraut. Ich wollte mir keine Abfuhr einhandeln. Ich kannte doch Deine Einstellung. Aber ich wollte es. Ich wollte Dich fragen, ob Du mich nicht heiraten willst. Ich hätte Dich geheiratet. Sofort und auf der Stelle. Noch im Krankenhaus auf dem Sterbebett. Ich hätte es getan. Aber ich habe zu lange gezögert. Ich habe es Dir dann erzählt und noch dazu gefügt, dass Du ja jetzt Glück hast. Du kannst Dich jetzt davor drücken mir eine Antwort zu geben bzw. mich zu heiraten. Was für ein Glückspilz Du doch bist… Wirklich merkwürdig, was man so von sich gibt.
Als Du immer stiller wurdest und Dein Atem immer wieder aussetzte, hab ich Dir dann geflüstert, dass Du jetzt gehen darfst. Es wäre okay. Ich glaube, Du hast noch versucht den Kopf zu schütteln. Du wolltest nicht gehen. Aber Du hattest keine Kraft mehr. Ich kann es heute noch immer nicht fassen. Mein starker, sportlicher Mann. Meine Energiequelle. Mein Motivator. Mein Ein und Alles. Einfach kraftlos. Null. Gar nichts mehr in Reserve. Völlig unverständlich.
Ein paar Mal – als die Atemaussetzer anfingen – dachte ich immer, jetzt ist es soweit. Jetzt – und dann holtest Du doch noch einmal ganz leise und schwach Luft… Das ging ein paar Mal so. Es war nervenfressend. Es war schrecklich. Und dann diese Stille. Keine Atmung mehr. Oder doch noch? Nein, da kommt jetzt keine mehr. Oder doch? Nein, nein, nein.

Unser Schicksalslauf am 06.03.2006 – heute vor 6 Monaten – hat gute 3 Stunden und eigentlich noch viel, viel länger gedauert.

Seit einem halben Jahr bin ich nun also alleine. Kämpfe mit mir, mit anderen, mit der Trauer, dem Kummer und den Seelenqualen. Seit 180 Tagen vermisse ich Dich. Seit 4.320 Stunden frage ich mich, was wäre wenn und warum. Warum nur. Und jede einzelne dieser 259.200 Minuten denke ich an Dich und an das Uns.

Diese Zeit hat mich geprägt wie wahrscheinlich nie zuvor etwas in meinem Leben. Diese Krebskrankheit, Dein Tod und alle anderen Erlebnisse seit dem sind mein Stempel, den ich wohl bis zum Ende tragen werde.

Es ist soviel und doch auch gar nichts passiert. Die „zwischenmenschlichen Erlebnisse“ aller Couleur sind zum Teil sehr verletzend, auch ungerecht und vielleicht auch aufschlussreich. Einige sind aber auch positiv und helfen mir weiter. Erlebnisse wie Geburtstage oder unser 3-Jähriges sind schwer zu tragen so alleine. Ich habe Angst vor solchen Anlässen wie Weihnachten oder irgendwelche Feste. Ja, nette Feste, zu denen man eine Einladung bekommt. Eine Einladung mit Partner. Bringen Sie doch Ihren Partner mit! Klar – gerne doch. Wo war der noch gleich?! So eine Frechheit! Ich kann es nicht verstehen, wie kann man mir so was nur in die Hand drücken! Wo sie doch genau wissen. Wo sie Dich doch auch gekannt haben. Einige sogar besser und länger als ich. Warum sind die meisten so gedankenlos? Ich glaube auch nicht, dass nur einer von denen und von anderen (Du weißt schon) darauf kommt, was für ein Tag heute ist. Und was dieser Tag für mich bedeutet und wie schwer er zu ertragen ist. Keiner. Ich wette mit Dir. Natürlich werden einige dran denken: Dein Bruder, die N’s, die liebe A. und wer sonst noch immer so… wie soll ich mich ausdrücken….. Alle die halt noch viel an Dich denken.

Ich weiß, dass Du irgendwie bei mir bist. Zumindest ab und zu. Ich hoffe darauf, dass ich Dich irgendwann wieder sehen darf und die vielen Fragen und die vielen offenen Dinge klären kann. Und ich wünsche mir, dass Du zurückkommst. Das ist mein größter Herzenswunsch! Denn ich liebe Dich von Herzen!

Du weißt doch: Dein ist mein ganzes Herz….
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Ich würde Jahrtausende lang die Sterne durchwandern,
in alle Formen mich kleiden,
in alle Sprachen des Lebens,
um dir einmal wieder zu begegnen.
(Friedrich Hölderlin: Hyperion)
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