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Alt 21.07.2002, 22:41
Gast
 
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Standard Wer kann mir helfen?

Hallo zusammen!

Nadine, du schreibst, dass du dir nicht vorstellen kannst, dass mein Vater sich auf seinen Tod gefreut haben könnte. Da würde ich dir widersprechen wollen. Ich glaube, Frieden im Tod zu finden ist seine einzige Hoffnung gewesen, und ich weiß, dass er nicht mehr leben wollte! Wäre er gesund gewesen oder hätte zumindest nicht diese körperlichen Einschränkungen und Schmerzen gehabt (Schmerztherapie hat nicht gegriffen) oder diese schreckliche Übelkeit, die er monatelang erdulden musste ohne auch nur eine Minute lang Erleichterung zu finden, dann hätte er es vorgezogen zu leben. Aber unter diesen Bedingungen hat er nicht leben wollen, das weiß ich, weil er es uns geschrieben hatte.
Vielleicht hatte er gar keine Angst mehr davor, zu sterben, weil er sich einen schlimmeren Zustand als den aktuellen sowieso nicht mehr vorstellen konnte. Ich glaube nicht, dass er sich distanziert hatte, um unsere "verheulten Gesichter" nicht sehen zu müssen, weil er das vielleicht nicht ertragen hätte. Ich denke, dass er am Schluss schon so weit war, sich wirklich nur noch auf seine Bedürfnisse zu konzentrieren. Da ist es ihm sicher egal gewesen, ob er uns traurig macht, wenn er uns verlässt. Ich stelle es mir immer so vor, wie wenn es mir selber mal so richtig schlecht geht. Wenn ich zum Beispiel mal so schlimme Bauchschmerzen habe, dass ich keinen Menschen mehr sehen möchte, wenn ich nur noch allein sein möchte. Dann ist es mir zum Beispiel auch egal, was andere empfinden. Ist jetzt ein etwas blöder Vergleich, aber was besseres fällt mir aus meinem eigenen Leben gerade nicht ein.
Ich könnte mir vorstellen, dass mein Vater es auch so empfunden hat. Dennoch hätten wir ihn durch unsere Anwesenheit daran gehindert, sich auf sich zu konzentrieren. Mal ganz abgesehen davon, dass er es als anstrengend empfunden hätte, uns unterhalten zu müssen (denn so ein Mensch ist er gewesen...), hätte es ihn nur von sich selber abgelenkt. Wir hätten ihn immer wieder aus seiner Vorbereitung herausgerissen.
Ich habe ihn nur noch einmal angerufen. Ich wusste, dass er nicht wollte, dass ich noch Kontakt zu ihm halte oder aufbaue. Es ist mir schwergefallen, mich nicht bei ihm zu melden, weil ich auch nicht wollte, dass er das Gefühl bekommt, dass ich ihn abgeschrieben habe oder alleinlasse. Aber ich wollte ihm meinen Respekkt und meine Liebe zeigen, indem ich seinen Willen akzeptiere. Alles andere hätte ich ignorant und rücksichtslos gefunden.
Seine letzten Worte zu mir waren "Nacht...Nacht" und er meinte "Gute Nacht". Für mich waren sie Abschiedsworte. Er wollte mir Tschüss sagen damit. Es war überflüssig, mich danach noch einmal mit ihm auszutauschen, es war alles gesagt.
Aber natürlich mache ich mir mitunter auch Vorwürfe, nicht doch mehr für ihn getan zu haben. Vielleicht hätte er es zugelassen, ihn bis zum wirklichen Schluss zu begleiten, wenn ich ihm das Gefühl gegeben hätte, dass ich ihn loslassen kann. Wenn ich mich so verhalten hätte, dass er mich nicht als Belastung empfunden hätte, sondern als Stütze. Denn das glaube ich auch: Kein Mensch ist in seinen letzten Stunden gerne allein, wenn er einen anderen Menschen bei sich haben kann.
Nur die Voraussetzungen müssen halt erfüllt sein.
Also hab ich vielleicht doch nicht alles richtig gemacht...

Nein, ihr Lieben, es sind keine Vorwürfe, die ich mir hier mache, aber es sind meine Gedanken. es ist das, was mich seit langem schon beschäftigt. Ich habe eines daraus gelernt. Wenn noch einmal ein naher Mensch im Sterben liegen sollte, werde ich anders darauf vorbereitet sein.

Ich wünsche euch eine gute Nacht. Anja
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