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Alt 25.08.2006, 23:54
Ladina Ladina ist offline
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Daumen hoch AW: Krebskinder werden erwachsen

Lieber Rainer

Auch ich habe Bilder aus dem KH als innere Erinnerungen in mir, die wahrscheinlich aus der ersten Zeit stammen. Es sind wortlose Bilder, ich weiss nicht, wo es war und wann, aber sie schreien von Sehnsucht, von Verlorensein, von Abgetrenntsein, von Dunkelheit und Schatten. Kehre ich in meiner Erinnerung an die Zeit in Basel mit 8 Jahren zurück, sind da ganz andere Bilder, keine so schlimmen, dunklen.
Trotzdem bestreiten Psychologen teils bis heute, dass so kleine Kinder , wie wir es waren, überhaupt Erinnerungsbilder -und Gefühle mit sich nehmen können, bzw. eher, dass sie einem folgen wie ein lauernder Schatten. Wenn es einem gut geht und man sich sonst wohlfühlt, kommen die Schatten nicht zum Vorschein, aber es reicht ein kleines Erinnerungsstückchen, eine kurze Sequenz oder auch nur der Anblick eines Gegenstandes, der einen erinnert oder ein Gefühl in sich, und der Schatten prescht hervor und überrollt einen.
Dann hat uns die Erstarrung wieder, der Schreck, das Entsetzen, der Wunsch zu brüllen, die Schläuche rauszureissen.
Doch wir bleiben stumm und müssen es bleiben, denn wer würde es verstehen, wenn wir heute, nach so vielen Jahren, so erwachsen wie wir sind, grundlos zu brüllen begännen. Wer ausser die, welche ein Trauma tragen, kennt das denn.
Wenn ich Dir zuhöre Rainer, und es geht mir grad wie Dir, möchte ich mit dem kleinen Bübchen brüllen, und wenn ich denke, Du kämst jetzt noch klein zu mir in die Behandlung (so wie ich "meine" kriegstraumatisierten Kleinkinder betreue) so würde ich Dich erzählen, brüllen, schweigen und spielen lassen und ich würde Sand einsetzen, feinen Sand. Sand lockert auf.
Aber Du bist nicht mehr klein, ich auch nicht, nur, wir fühlen uns manchmal noch so.
Wenn Du heute den Rucksack anschaust, seinen grausamen Inhalt, dann ist das ein grosser Schritt.
Lange hat man Dir einfach alles hinten rein gestopft, und Du selbst hast es auch zum Selbstschutz verdrängt. Nur, Verdrängtes geht nie weg und es heilt auch nicht. Aus all dem Verdrängten entwickelt sich nur eine stinkende Brühe, die unten gärt, mehr und mehr. Sie kann Dich innerlich vergiften, krank machen, wenn Du das Signal überhörst, das sie plötzlich sendet, dann, bevor sie kurz vor dem Bersten ist, bevor sie dich zerreist.
Aber Du hast es gut gemacht , Rainer, auch wenn es jetzt schrecklich ist, Du hast den Rucksack geöffnet. Die Jauche muss dringend an die Luft, bevor die giftigen Dämpfe Dich ersticken.
Hilft Dir noch jemand beim Verarbeiten, so ganz alleine, ich hätte das nicht geschafft.
Aber auch ich hatte einmal einen Rucksack mit Abfällen drin, mit unendlich vielen. Heute ist mein Rucksack kleiner, besser zu tragen, denn ich habe einen Grossteil der Jauche an die Luft gesetzt, mir selber dabei auch Luft gemacht mit Erzählen, mit Schreiben, mit Verarbeiten und Atmen.
Meine Gülle habe ich zu Kompost werden lassen, den ich getrost liegen lassen konnte - aber das geht jahrelang - und zumindest bei mir, musste dazu jemand dasein, der das alles aufgefangen hat.

Die Kinder heute, die Eltern, die Geschwister, sie werden von Anfang an betreut, damit sich nie solche Altlasten aufstauen können wie bei uns. Es gibt Spieltherapie, Atemtherapie, Musiktherapie, Maltherapie,Schreibtherapie. Alles hat mit Loslassen und Verarbeiten zu tun, mit innerem nach aussen lassen, denn alles, was innen gefangen bleibt, wird aggressiv, je länger, je mehr.

Darum kann ich Dir nur raten, lass es raus. Du kannst mir auch privat mailen, wenn Du denkst, ich könnte Dir irgendwie behilflich sein. Auch mein Weg ist nicht zuende, doch denke ich, da meine Erkrankung chronisch ist, wird mir bessere Betreuung zuteil als Dir, wenn es darum geht, mal sein Herz auszuschütten.
Übrigens, auch ich bin mit meinem familiären Kummer "fremdgegangen". Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Aussenstehende manchmal klarer sehen, als die unmittelbar betroffenen, zumal auch meine "Leute" finden, man muss die Zeit damals nicht mehr aufwärmen.

Ich bin ein Nachtgespenst, merkst Du's

Wahrscheinlich liest Du das erst morgen.

Ich wünsche Dir einen schönen Tag und eine Möglichkeit, in die Natur zu gehen. Neben meiner Ersatzmama und der Atemtherapie(nach Ilse Middendorf) ist es vor allem auch die Natur gewesen, die mich in den Einklang mit meiner Geschichte geführt hat.

Ich freue mich auf weiteren Kontakt mit Dir, wenn Du auch magst

Take care

Ladina
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