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Alt 30.05.2003, 15:19
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Standard Schwerer Abschied

Liebe Tina,
beim Lesen Deiner Beiträge hatte ich das Gefühl, als ob ich meine eigene Geschichte lese...
Mein Vater ist im Sommer 2000 während einer Ausflugsfahrt mit meiner Mutter "einfach so" an Herzversagen gestorben – kurz vor seinem 63. Geburtstag. Mitten im Wald - er wollte Wasser bei einem Bach holen, um die Autoscheibe zu putzen, und kam nicht wieder. Meine Mutter hat ihn dann gefunden. Mein Vater war in all den Jahren quasi unsere "Lebenversicherung" gewesen - er hatte für jeden ein gutes Wort, war immer für uns da - und hat so gerne gelebt!
Meine Mutter (63) hat seit '97 Brustkrebs, hatte im Winter '99 Lungenmetastasen, die rausoperiert wurden. Mein Vater war für sie da, hat ihr oft die Entscheidungen abgenommen. Für ihn wollte sie weiterleben, und hat sich auch gut erholt. Dann ist er gestorben, und meine Mutter hat wirklich gekämpft, um im Leben wieder Fuß zu fassen.
Ich muss dazu sagen, dass sie schon lange immer wieder schwere Depressionen hatte, oft monatelang in Kliniken war. Etwa 6 Monate nach dem Tod meines Vaters ist sie dann regelrecht zusammengeklappt, kam wieder in die Klinik. Bis zum Frühjahr 2002 war sie mehr in Kliniken als daheim, kam dann wieder nach Hause, um dann im letzten Sommer wieder einen Krebsbefund zu erhalten (Metastasen in Lunge und Wirbelsäule). Wir waren alle vollkommen verzweifelt und hilflos, meine Mutter war nun neben der Depression auch körperlich völlig fertig (ins KH ist sie wegen einer Lungenentzündung gekommen, war also eine Zufallsdiagnose). Immer wieder fragte sie mich, was sie machen soll (so wie sie eben immer meinen Vater gefragt hatte), und ich wusste es doch auch nicht. Wir haben es dann mit häuslicher Pflege probiert, aber meine Mutter war psychisch so fertig, dass man sie nicht allein lassen konnte - sie geriet in Panik. Ich wohne zwar noch zuhause, bin aber nicht den ganzen Tag da (studiere). Als es immer schlimmer wurde, ist sie wieder in die Psychiatrie - in die geriatrische Abteilung zwischen lauter verwirrte alte Leute. Dort haben sie die Depression aber ganz gut in den Griff gekriegt, und meine Mutter hat dann beschlossen, in ein Pflegeheim zu gehen. Sie hat sich von der Klinik aus eines ausgesucht, und es hat ihr gut gefallen, obwohl es für uns total mühsam zu erreichen ist, aber das hat sie in Kauf genommen (sie hatte immer einen starken Willen).
Dort ist sie jetzt seit letztem Winter, und es geht ihr von Woche zu Woche schlechter. Die Krankheit übernimmt immer mehr die Kontrolle über ihren Körper, sie wird immer verwirrter, liegt fast nur noch im Bett. Wenigstens die starken Schmerzen sind jetzt Dank Morphium erträglich. Ich bin zwar einerseits beruhigt, dass sie gut versorgt wird, aber es belastet mich sehr, dass ich nicht so oft bei ihr sein kann. Sie möchte nur noch sterben, aber ihr Körper ist trotz allem so zäh...

Auch wenn es normal ist, dass Eltern irgendwann sterben, so macht es den Schmerz doch nicht geringer...
Mein Vater war gleichzeitig mein bester Freund, wir waren uns von der Art her so ähnlich, haben uns ohne viele Worte verstanden. Dass er plötzlich nicht mehr da war, hat mich so schockiert, wie mich wohl nie mehr etwas schockieren wird (auch der Tod meiner Mutter nicht - da empfinde ich eher Wut, warum sie so viel leiden muss, warum ihr Leben so scheiße hat verlaufen müssen). Wenn meine Mutter stirbt, ist das für sie eine Erlösung, und sie freut sich auch auf ein Wiedersehen mit meinem Vater.
Mir wird es fehlen, dass dann niemand mehr so nachfragt, wie es nur Eltern tun - wie es mir geht, oder auch das als Jugendliche von mir so verhasste "Sorgen-machen" von meiner Mutter. Mich macht es traurig, dass, sollte ich mal Kinder haben, diese meine Eltern nicht erleben werden (ging mir selber auch schon so). Halt so die klassischen Dinge. Als mein Vater nicht mehr da war, konnte ich z.B. keine Filme sehen, in denen der Vater die Braut zum Altar führt - ich hab dann grad losgeheult...Dabei weiß ich ja gar nicht, ob ich überhaupt mal heiraten werde!

Bei mir ist es ein Hin-und-Her von totaler Verzweiflung und wildem Zukunftspläne-Schmieden. Noch schaffe ich es, den Kopf über Wasser zu halten, aber diesen Sommer mache ich mein Diplom, soll kreativ sein (Grafik-Design), und gleichzeitig weiß ich, dass es mit meiner Mutter immer weiter bergab geht, und ich eigentlich für sie da sein möchte. Ich hocke alleine in unserem Haus, das vor sich hin gammelt, weil mir die Kraft fehlt, alles ordentlich zu halten. Irgendwie ist mir das so egal!

Aber bei all dem Scheiß habe ich immer öfter das Gefühl, dass mein Vater bei mir ist, mir Mut macht, so wie er es immer getan hat. Nicht konkret als so eine Art "Erscheinung", aber ich habe so oft so ein Gefühl. Oder ich rede in Gedanken mit ihm, und auch wenn ich dann heule, so bin ich danach dann oft ruhiger. Und das gibt mir viel Kraft!

Tina, die Aufgabe unserer Eltern war es, uns so "hinzukriegen", dass wir im Leben bestehen können. Meine Mutter ist fest davon überzeugt, dass ich es schaffen werde, und sie betont immer wieder, dass sie wegen uns Kindern nicht länger leiden wollte (also uns zuliebe, weil wir uns nicht trennen können). Das akzeptieren wir natürlich auch. Und wenn es mir mal wieder total scheiße geht, dann sage ich mir, dass es MEIN Leben ist, für das ICH die Verantwortung trage, und dass ich vielleicht meine Eltern so verdammt früh verliere, aber danach bin ich dann auch "frei", und habe etwas hinter mir, was andere noch vor sich haben. Das ist ein kleiner Trost. Und ich glaube auch an ein Wiedersehen, und dass meine Eltern auch um mich sind, wenn ich sie nicht sehe.

Tina, lass Dich in den Arm nehmen und fest drücken - man hält sich immer für einen Sonderling, wenn es den Menschen um uns herum scheinbar so gut geht, und nur bei uns läuft alles so schief, aber es gibt so viele, denen ähnlich schlimme Sachen passiert sind, und die es doch irgendwie geschafft haben, das durchzustehen. Das macht mir Mut.
Und ich werde nicht aufgeben, auf eine bessere Zukunft zu hoffen!

Ganz liebe Grüße, Anne-
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