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Alt 31.08.2010, 10:48
yagosaga yagosaga ist offline
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Standard AW: Kleinzeller mit Fernmetastasen

Hallo zusammen,

Zitat:
Zitat von johanna84 Beitrag anzeigen
Finde es schön, dass Dich Deine Tochter so auf Trab hält... es mag Dich ab und zu nerven... aber im Endeffekt ist es doch schön, so einen Wirbelwind im Haus zu haben, oder?
Natürlich ist das schön! Auch wenn es manchmal mühsam ist. Kinder sind das volle pralle Leben und die beste Medizin gegen den Tod.

In einigen Tagen wird es übrigens ein halbes Jahr, seit dem ich nun mit dem Krebs lebe. Ein halbes Jahr ist für mich angesichts der Anfangsbefunde und dessen, was ich in der Zwischenzeit erlebte, schon eine sehr lange Zeit. Im Rückblick war es ein sehr hartes halbes Jahr gewesen, das vor allem durch die Dramatik und Tragik der Erstdiagnose geprägt wurde.

Krebsdiagnosen können ja sehr verschieden sein. In den meisten Fällen erleben die Menschen heute ja - Gottseidank -, dass sie einen Tumor haben, bei dem es Aussichten auf Heilung gibt. Erst sehr viel später, wenn bei einigen Patienten Metastasen kommen, kommt die Erkenntnis, an einer tödlichen Krankheit zu leiden, die eher über kurz als lang zum Ende führt.

Bei mir war es umgelehrt: Bevor der Primärtumor überhaupt gefunden wurde, wusste ich, dass ich Metastasen hatte, und zwar nicht nur eine, sondern so viele, dass kein Arzt sich mehr die Mühe unternahm, sie zu zählen. Und als ich das schockierte Gesicht meines Arztes sah, wusste ich sofort, dass damit mein Sterbeglöckchen geläutet hatte.

Was man in einer solchen Situation an Gefühlen und Stimmungen erlebt, lässt sich mit Worten nicht beschreiben. Ich stand nach der Untersuchung im Wartezimmer, schaute zum Fenster hinaus, sah das strahlende Sonnenlicht des Märzes und einen tiefblauen Himmel und dachte, aha, so ist das also, wenn es in die Zielgerade zum Tod geht. Ich wunderte mich über mich selber, dass ich so ruhig blieb. Ich dachte an Krebspatienten in der Gemeinde, die angesichts einer solchen Diagnose in der Praxis zusammenbrachen, dachte an Besuche im Krankenhaus, wenn mich jemand aus der Gemeinde kurz nach einer solchen Diagnose anrief, um seelischen Beistand zu haben.

Bei mir lief das irgendwie anders, und es wurde mir sofort klar, dass ich dieser Krankheit keinen "Absolutheitsanspruch" auf mich eingestehen wollte. Es war mir auch klar, dass angesichts dieses Befundes eine Operation nicht mehr möglich war, dazu wurde der Krebs leider zu spät entdeckt. Alle vorherigen Anzeichen hatte ich ignoriert oder bagatellisiert. Die einzige Option, die es gab, war Chemotherapie. Sie kann die Restlebenserwartung um bis das fünffache verlängern. (Ohne Chemotherapie wäre die durchschnittliche statistische Lebenserwartung in meinem Krebsstadium ja nur noch zwischen sechs und acht Wochen gewesen).

Nach einer "kontrollierten Phase" großer Selbstbeherrschung kamen dann die verschiedenen Spielarten der Todesangst. Auch hier kann ich nichts Vergleichbares nennen, um das zu beschreiben, aber wer in seinem Leben wirkliche Todesangst erlebt hat, wird das nachempfinden können. Todesangst ist etwas anderes als "normale" Angst oder Furcht, sie löst höchst paradoxe Reaktionen aus. Sie ist zugleich aber für mich zum Urgrund intensiver und auch ungewöhnlicher Gotteserfahrungen geworden, die sich so nicht einstellen im Leben.

Man freundet sich mit dem Tod an, obwohl man ihn ja nie zum Freund haben kann und will. Der Tod ist ein stiller, aber aufdringlicher Begleiter. Er lehrt, dass es keinen Menschen mehr gibt, den man fürchten muss. Der Tod macht frei und erzieht dazu, auf keinerlei menschliche Konventionen oder Erwartungen mehr Rücksicht nehmen zu müssen. Alle Beziehungen werden da nochmal neu "durchbuchstabiert": Ob niedres Pack, ob hohe Herrn / am Ende sind wir Brüder doch. Dann leuchtet uns der Abendstern / ins gleiche, finstre Loch!

Bei allem, was ich tue und denke, ist der Tod präsent. Auch heute nach fast einem halben Jahr. Aber auch Gott ist präsent. Anders. Von Gott her kommt mir die Einsicht zugeflogen, dass, solange ich lebe, noch nichts entschieden oder festgelegt ist. Medizinisch werde ich ja palliativ behandelt, nicht kurativ. Das kann man überall nachlesen. Aber ich weiß, dass Gott in jeder Krankheitsphase Heilung schenken kann. Heilung geschieht dann ohne "Vorleistung" etc., das heißt, ich brauche von mir aus nichts dazu zu tun, mich nicht irgendwie besonders verhalten etc.. Das einzige, was ich (und auch andere) dazu tun können, ist, darum zu bitten. Aber ob Gott diese Bitte erhöhrt und wie er sie erhört, das ist allein seine Sache, und das soll auch seine Sache sein. Für mich gilt es, bereit zu sein. Bereit für das, was Gott mit mir vorhat.

Am letzten Dienstag bekam ich die 30. Chemo, die zugleich meine letzte war. Nach der anschließenden Untersuchung hatte mein Arzt eine gute und eine schlechte Nachricht für mich. Nun lebe ich wie jemand, der den sicheren Hafen verlassen hat und hinausschwimmt aufs Meer. Werde ich mich über Wasser halten können? Werde ich untergehen, wenn die See stürmig wird? Wird Gott eingreifen wie bei der Stillung des Sturms und werde ich wieder zurückkehren in den Dienst und den Beruf? - All das ist offen und das ist auch gut so. Niemand kann es vorhersagen.

Das Leben mit einer solchen Krankheit hat mich sehr verändert. Auch rein äußerlich. Auf der Straße erkennen mich selbst "alte Bekannte" aus der Gemeinde nicht wieder, wenn sie mich längere Zeit nicht mehr gesehen haben. Auch wenn ich in Nachbargemeinden zum Gottesdienst gehe, werde ich dort nicht mehr unbedingt von Menschen erkannt, mit denen ich vor einiger Zeit noch zusammen war. Beim Volksfestumzug habe ich mir schließlich ein Schild umgehängt: "Ich bins" mit zwei Photos vor und nach der Chemo, weil ich von "alten Bekannten" nicht immer wieder wie ein Neubürger angesehen und begrüßt werden wollte. Es hat geholfen.

Viele theologische Fragen, an denen ich mir früher die Zähne ausgebissen habe, finden heute einfache und einleuchtende Antworten. Z.B. was der Sinn des Lebens ist und wozu wir da sind. Die todbringende Krankheit im Bauch schärft den Blick für Wesentliches und auch für tiefere Zusammenhänge in vorher nicht vermuteter Klarheit.

Zum Glück konnte ich mir die Fähigkeit erhalten, mich auch weiterhin, - auch unter dem Druck einer solchen niederschmetternden Krankheit, - sprachlich auszudrücken. Die Gedanken sind nicht mehr so flüssig wie früher. Vieles ist zäher und langsamer geworden. Auch das Schreiben hatte gelitten, eine Nebenwirkung der Chemotherapie ließ die Finger taub und ungelenk werden, so dass das Schreiben auf der Tastatur zwischenzeitlich mühsam wurde und das Schreiben mit der Hand zur Qual.

Die ersten zwei Drittel der Chemotherapie waren im Vergleich zum letzten Drittel ein Spaziergang. Inzwischen kann ich die Menschen besser verstehen, die die Chemo wie die Hölle fürchten, und wenn ich mir dann auch noch vorstelle, zu alledem noch tagelange Übelkeit und Erbrechen, dann ist das die Hölle. Diese ist mir Gottseidank erspart geblieben.

Ich treffe auch heute noch auf Menschen, die diese Hölle auch durchmachen. Die Medikamente gegen Erbrechen und Übelkeit müssen geschluckt werden. Hat das Erbrechen einmal eingesetzt, so werden sie wieder ausgespuckt und können nicht mehr wirken. Es kommt also darauf an, das Erbrechen schon im Keim zu ersticken, und dazu bekomme ich direkt vor der Chemo-Infusion eine Spritze gegen Erbrechen. Diese wirkt bei mir Gottseidank, und daher habe ich hier weniger Probleme. In den Stunden darauf wirken dann die oralen Medikamente. Auf dem Höhepunkt des Brechzreizes (am dritten und vierten Tag nach Cisplatin) bleibt bei mir nur noch ein länger andauernder Schluckauf übrig, bei dem ich aber auch aufpassen muss, dass mit dem Schluckauf nicht plötzlich "die ganze Suppe hochkommt". Das geht aber immer noch. Wie gesagt, es geht mir vergleichsweise immer noch sehr gut!!!

Nach der Diagnose habe ich sofort gewusst, dass das, was ich von da an erlebe, etwas ist, was tausende, wenn nicht millionen Menschen erleben. Es ist also etwas, was *jedem* von uns widerfahren kann. Aber ich habe auch gespürt, dass ich anderen Menschen Einblicke ermöglichen kann, die eher selten zugänglich sind. Die Ex-Bischöfin Margot Käßmann hat es ja gerade treffend gesagt:

"Die Auseinandersetzung gerade mit frühem Tod ist ein
großes Thema, aber ich finde es schlimm, dass viele
Menschen überhaupt nicht darüber sprechen. Das habe
ich selbst erlebt, sogar bei Theologen. Da sagte mir
die Ehefrau, ihr Mann sei krebskrank, und eigentlich
ist auch klar, dass das zum Tod führt. Trotzdem wird
nicht darüber gesprochen."

Dieses Schweigen und dieses Sich-Zurückziehen mit und in seinem Leiden empfinde ich als viel deprimierender. Da macht sich dann der Tod schon vorzeitig im Leben breit und bricht Beziehungen ab. Das aber soll um Gottes Willen nicht sein, und so ist ein offener Umgang mit der Krankheit die beste Möglichkeit, nicht auch noch einen vorzeitigen Beziehungstod zusätzlich zu erleiden.

Die Rolle der Angehörigen und Außenstehenden ist eigentlich immer eine blöde Rolle. Sie sind in der Regel passive Beobachter, müssen aber das Geschehen aktiv erleiden und glauben nicht, dass sie wirklich helfen können. Dabei könnten sie so viel tun: einfach da sein und mit aushalten. Wichtig ist für ein offenes Gespräch, einen Raum zu schaffen, in dem sich der Betroffene aussprechen kann, in dem sie oder er nicht bedrängt werden. Auch die Äußerung einer Heilungszuversicht kann deplatziert sein, wenn man als Betroffener innerlich anders empfindet. Als Betroffener entwickelt man ganz feine Antennen und spürt sofort, wenn man auf Vorbehalte oder Ängste bei anderen stößt. Und dann schweigt man, und es kommt zu dieser Spirale von Beziehungsabbrüchen, und die wertvolle verbleibende Zeit wird dann auch noch mit Schweigen und unnützen Dingen verplempert und "totgeschlagen", und als Betroffener wird man langsam, aber sicher ausgegrenzt, aus dem öffentlichen Leben gedrängt und in die Warteschleife auf den Tod geschoben. Das ist dann noch deprimierender als die Krankheit selbst.

Es tut auch einfach gut, nicht um den heißen Brei herumreden zu müssen und auch nichts verheimlichen zu müssen.

Sogar mit Jugendlichen aus der Gemeinde klappt es inzwischen:

Beim Volksfest jetzt kam ein 14jähriger auf mich zu, fragte mich, wie es mir gehe, und dann druckste er herum bis er schließlich fragte, ob ich geheilt werden könne? Ich sagte ihm, was mir mein Arzt sagte: Heilung ist ein großes Wort, dass er bei dieser Krebsart nicht in den Mund nehmen möchte. Daraufhin hatte ich ein tolles Gespräch mit ihm über Tod, Angst und Erwachsenwerden, und in solchen Situationen erlebe ich, dass ich auch jetzt noch anderen Menschen etwas mitgeben kann, was an dieser Stelle nur ich geben kann - für mich eine glückliche Erfahrung.

Gerade wenn Konfirmanden oder Jugendliche auf mich zukommen und mich fragen, sind das für mich besonders intensive Erfahrungen. Sie nehmen dann oftmals ihren ganzen Mut zusammen, um mich anzusprechen, das spüre ich. Aber sie sind auch wahnsinnig neugierig: wie macht der denn das, mit solch einer Krankheit zu leben? Und sie sind eben in ihrem Fragen sehr direkt, und ich freue mich, dass ich dem standhalten kann, und ihnen auch Antwort geben kann. Manchmal zögern sie auch mitten im Versuch, mich anzusprechen. Dann muss ich eine Brücke bauen, etwa mit dem Spruch "ich lass mir doch durch den Lungenkrebs nicht den Tag verderben..." Aber dann kommt auch ein Gespräch in Gang.

Die Erwachsenen sind da sehr viel verhaltener. Sie sprechen mich zwar inzwischen auch ständig an, aber sie wollen nur wissen, wie es mir im Moment geht. Nach der Glaubensdimension oder dem Umgang mit der Todesmöglichkeit fragt nur selten jemand von ihnen von sich aus. (Das ist eben für Jugendliche doch interessanter.) Und doch müssen wir miteinander gerade darüber ins Gespräch kommen, denn hier geht es elementar um uns und wie wir unser Leben gestalten besonders da, wo es eng und schwierig wird. Die Menschen in der Bibel haben ja auch ihre Leiderfahrungen und ihre Todesängste nicht mit sich selber abgemacht, sondern öffentlich darüber gesprochen und gebetet ohne Rücksicht darauf, "was die anderen denken könnten".

Wie sollen wir denn auch die schwierigen Zeiten im Leben bestehen können, wenn wir nicht die Gelegenheit haben, uns rechtzeitig miteinander auszutauschen und einander teilhaben zu lassen? Bei Krebs und Tod ist ja jeder von uns Anfänger. Ich konnte vorher nicht eine Fortbildung besuchen mit dem Thema, wie ich durch die Chemotherapie komme oder wie ich am besten eine Krebsdiagnose verdaue? Es brach über mich herein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und welche unschätzbare Hilfe es ist, von anderen in einer solchen Situation zu wissen und sich austauschen zu können, das habe ich ganz schnell in der Tagesklinik und dann auch bei anderen Gelegenheiten gespürt.

Natürlich habe ich auch wieder neue Ziele. In der Gemeinde besuche ich Kranke und Trauernde wenn ich kann. Diese Gespräche haben heute eine völlig andere Qualität. Wenn ich wieder kräftiger bin, möchte ich in die ehrenamtliche Strafgefangenenseelsorge und einen einzelnen Gewaltverbrecher, der mir zugewiesen wird, begleiten, solange ich kann. Im Herbst möchte ich wieder einen Gottesdienst halten. In diesen Tagen wird ein Hörfunkbeitrag bei mir zuhause produziert. Aber auch "Abgedrehtes" soll sein: wenn alles gut geht und es angenommen wird, möchte ich beim diesjährigen Hackerkongress in Berlin (27C3) erstmals öffentlich einen selbstgebauten "mechanischen Farbfernseher" vorführen, mit dem man das aktuelle Fernsehprogramm auf einer rotierenden Spirallochscheibe briefmarkengroß und in Farbe sehen kann, konstruiert nach einem antiken Fernsehpatent von 1885.

Beste Grüße
Ecki