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Alt 27.11.2008, 21:52
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wiebra wiebra ist offline
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Registriert seit: 16.10.2005
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Standard AW: Leben - nach dem Abschiednehmen?

Hallo Blume, hallo ihr Lieben anderen,

in euren Aussagen finde ich ein Stück von meinen Gedanken und Erfahrungen, wie auch tröstende, Hoffnung gebende Worte. Ein Tod ist eine so vielschichtige und weitreichende und verändernde Erfahrung - er ist eine ganz einschneidende Lebens-Wegänderung.
Leben - nach dem Abschiednehmen?
Ich nehme Abschied, wahrscheinlich (m)ein Leben lang bis zum Wiedersehen.

Vor dem Tod unserer Tochter Annika (18) war Leben für mich Ziele setzen, Ziele erreichen, neue Ziele planen, vorwärts, weiter, alles ist machbar, was ich will, das schaffe ich! - Jetzt mag ich das nicht mehr - 1 Jahr und acht Monate ohne Annika. Nicht plötzlich, aber unvorbereitet für uns starb sie innerhalb von drei Tagen; obschon viele Anzeichen vorher immer sichtbarer wurden - vielleicht nur für uns unsichtbar?
Ewing Sarkom im Okt. 05 diagnostiziert, 6 Chemos, 4 Wochen Münster wegen Becken-OP, Hochdosis, 2 Wochen Münster wegen Lungen-OP, Schuljahr übersprungen und in die 12. Klasse mit Engagement hoch3, Bestrahlungen am Becken, Krankengymnastik, Nachhilfe, Psychotherapie und Leben, Leben, Leben "Mama, lass mich, wenn es mir gutgeht" Sept. 06 erneute Metastasen in der Lunge, Verzweiflung weggedrückt - neue Chemo und Schule, Krankengymnastik, ..., ... Chemo schlägt nicht an. Anfang Dez. Irinotecan und Temodal. Rückenschmerzen nehmen zu, Schule wird immer beschwerlicher, keiner weiß Hilfe. Heiligabend 06 - vor Schmerzen und nur noch liegend ins Krankenhaus. Schmerzmittel sollen eingestellt werden. Am nächsten Tag trägt Axel, mein Mann, sie ins Haus. Annika kann nicht mehr richtig laufen, kein Toilettengang, Beine nicht mehr bewegen, alles kribbelt.Lähmung bis zum Zwerchfell. 24 Std. später Diagnose:Guillain-Barré-Syndrom (Autoimmunerkrankung). Ärzte: sie stirbt innerhalb der nächsten Std. - sie erlebt Silvester nicht - doch! Sie lebt und ist vollgepumpt mit Morphium und spielt mit uns: Stadt-Land-Fluß! Ich lebe mit ihr seitdem im Krankenhaus.
Akribische Suche im Internet nach der Ursache. Axel und Lennard (unser Sohn) finden sie im "Waschzettel": Irinotecan darf nicht gegeben werden, wenn vorher eine Hochdosis Therapie gemacht wurde und bestrahlt wurde. Die Ärzte geben Annika auf (nur noch ein viertel Jahr, weil keine Chemo gegeben werden kann). Dann wollen sie doch noch eine Chemo geben; für Annika und uns unverständlich. "Ich lass doch nicht Russisch Roulette mit mir spielen!" Suche nach einer Alternative: Hyperthermie! 17. Januar 07 in die Gisunt-Klinik (Privatklinik). Innerhalb eines Monates wird sie von 192 mg Morphium/ Tag entwöhnt, Aufbau ihres kaputten Immunsystems (Vitamin A bis Zink, das ganze Alphabet durch), Hyperthermie an Lunge und Ganzkörper - körperlich ging es aufwärts trotz eines riesigen Dekubitus vom Liegen. Annika war entmutigt ("ich will doch nur wieder laufen können"), tief enttäuscht von den Ärzten im Krankenhaus, die Welt wurde kleiner und kleiner. Annika wollte immer weniger Besuch, ....... Die Lähmung ging endlich, wenn auch langsam zurück. Dann Atembeschwerden ! Was ist los? Annis Herz macht nicht mehr mit. Die Metastasen in der Lunge zersetzen sich nachweislich (Dienstag) und Annika kann trotzdem nicht mehr richtig durchatmen. Sie erhält wieder etwas Morphium, um Angst zu senken. Unter Atembeschwerden (Mittwoch)"Was muss ich tun, damit ich offiziell aufgenommen werde?" Annika fragt zweimal - ich ahne,ich weiß, sie fragt, weil sie sterben wird- ich erlaube es ihr und stehe neben mir "Du brauchst nichts zu tun, so wie du bist, wirst du aufgenommen.Es ist in Ordnung." Nierenversagen, Leberversagen, die Sicherung knallt durch als ich auf Toilette gehe - Annika liegt im Koma. Es ist, als wenn jemand einen unsichtbaren Mantel um mich gelegt hat- ich bin ruhig, ganz ruhig. Herze und küsse sie ab und an, spreche mit ihr. Um 0.25 Uhr(Freitag 23.3.07) der letzte Atemzug.

Welches Ziel jetzt? Leben - nach dem Abschiednehmen?
Weiterleben und Suche nach Anzeichen von ihr aus der geistigen Welt. Annika fehlt, meine Tränen sind immer im Auge, auch wenn ich lache. Zwei geteiltes Leben: Arbeiten und berufliche Bestätigung erhalten - Traurig sein und such nach ..... ?

Ihr Lieben im Forum - ein Hauch unserer Geschichte - puh und so lang.

Bis heute hat mich mein Leben im Abschiednehmen zum Reiki geführt, zur christlich-spirituellen Kirche in München, zu vielen Gesprächen mit gleicherlebenden Menschen - das tut gut.

Allein den Weg der Trauer gehen, aber nie allein sein.

PARDON - so viel habe ich noch nie hier im Forum geschrieben.

Uns allen wünsche ich Träume und Erinnerungen, die aufbauen und trösten

fühlt euch umarmt von
Renate
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"Manchmal ist es ganz gut, am Fuß des Berges nicht zu wissen, wie hoch er wirklich ist; denn mit dem Wissen über die gesamte Strecke lässt es sich meist schlechter wandern als wenn man einfach bis zum nächsten Grashalm schaut" Annika 11/2006

Geändert von wiebra (28.11.2008 um 11:53 Uhr)
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