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Alt 18.04.2007, 16:54
Stefans Stefans ist offline
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Standard AW: Depressionen oder Fatigue ?

Hallo,

Zitat:
Zitat von KretaKater Beitrag anzeigen
Mein Mann hatte jedes Angebot Antidepressiva zu nehmen abgelehnt, sein Argument ist für mich dann auch nachvollziehbar: für ihn ist das Allerschlimmste an seiner Krankheit der immense Kontrollverlust . . . die Klinikmaschine hat ihn geradezu überfahren, das wäre durch Psychopharmaka, von denen er sich fremdbestimmt gesehen hätte, nur noch schlimmer geworden.
Ich finde es positiv, dass in D gegenüber der Einnahme von Psychopharmaka eine große Zurückhaltung besteht - anders als in den USA, wo gerne auch Kinder und Haustiere damit abgefüttert werden :-( Trotzdem ein paar Anmerkungen dazu:

Du sprichst von deinem Mann und Psychopharmaka im Konjunktiv: 'hätte gesehen', 'wäre geworden'... hat er es denn mal ausprobiert? Psychopharmaka gibt es verschiedene. Und das, was die meisten Menschen befürchten (Persönlichkeitsverlust), ist genau das, was bei Antidepressiva (AD) eben _nicht_ auftritt.

Kleine Übersicht... die gängigen Psychopharmaka kann man in 3 Klassen teilen:

- Tranquilizer (Benzodiazepine; z.B. Tavor, Valium, Rudotel). Berüchtigt als 'mothers little helper'. Machen schnell besoffen und glücklich, dämpfen Gefühle, von der Wirkung her dem Alkohol sehr ähnlich. Machen leider sehr schnell körperlich abhängig. Länger als 3 Monate sollte man die nicht nehmen. Werden vorzugsweise von Allgemeinmedizinern an 'hysterische' oder sonstwie schlecht draufe Hausfrauen verschrieben, leider oft jahrelang. Einfach, weil das Zeug spottbillig ist. Bei Depris aber allenfalls kurzfristig oder als 'Notfallmedikament' indiziert, weil Benzos halt Angst- und Erregungszustände schnell und effektiv dämpfen.

- Neuroleptika (z.B. Mellerin, Haloperidol). Die Nachkriegs-Wunderwaffe der Psychiatrie, weil das erste, was gegen Psychosen und Schizophrenien 'half'. Leider Jahrzehnte lang hoch dosiert missbraucht, und daher als 'chemischer Knebel' berüchtigt. Entsprechend hoch dosiert, weiss der Patient nicht mal mehr wie er heisst, und läuft als 'lebende Leiche' durch's Leben. Extrem schlimm sind massive, irreversible Langzeitnebenwirkungen. Sog. 'Spätdyskinesien' - das sind Bewegungsstörungen, die nicht mehr weggehen. Wenn man einen Blick dafür hat, sieht man mitunter auf der Straße Menschen mit so einem typischen 'Robotergang'. Das sind die, die über xx Jahre mit Haldol abgefüllt wurden. Fast alle Ex-Patienten, die sich in SHG wie der 'Irrenoffensive' engagieren, und die einen völligen Hass auf die Psychiatrie haben, sind solche Langzeit-Neuroleptika-Opfer. Bei Depris nicht indiziert, allenfalls kurzfristig begleitend (wegen der sedierenden Wirkung).

- Antidepressiva. Helfen gegen Depris, machen nicht körperlich abhängig, auch nicht 'dumm' oder 'besoffen'. Der befürchtete Persönlichkeitsverlust, das Gefühl der 'Fremdbestimmung', tritt nicht ein. Man kann damit normal denken, fühlen, arbeiten gehen, Autofahren, mal ein Glas Wein trinken usw. Je nach Wirkstoffgruppe sedierend (TCA) oder anfangangs agitierend (SSRI / SNRI). Die antidepressive Wirkung setzt normalerweise mit Verzögerung ein, so 2-4 Wochen nach Einnahme. Beim Absetzen genau so. Häufigste Nebenwirkung ist der Libidoverlust: kein Bock mehr auf Sex. Und wenn doch mal Bock, dann oft Orgasmusunfähigkeit. Bei früheren AD (TCA) auch öfter mal drastische Gewichtszunahme oder sogar Haarausfall, bei neueren (SSRI/SNRI) sind die Nebenwirkungen sehr viel geringer. Allerdings noch nicht langzeiterprobt, weshalb sich SSRI/SNRI während der Schangerschaft verbieten.

Natürlich wirken AD persönlichkeitsverändernd. Das sollen sie ja auch. Aber diese Veränderung ist nicht so, dass man damit irgendwie dumpf im Nebel durch's Leben läuft, sondern positiv. So, dass man seltsamerweise nach ein paar Wochen Einnahme wieder mal lachen kann. Und Lust hat, aufzustehen, statt den ganzen Tag im Bett zu liegen. Und dass einem plötzlich auffällt, wie schön blau der Himmel manchmal ist. Und man beim Bäcker tatsächlich ein paar Sätze smalltalk mit der Verkäuferin reden kann, statt verstockt auf den Boden zu starren...

Zitat:
Zitat von arnika Beitrag anzeigen
mit meiner psychotherapeutin red ich immer wieder gerne und sie hat mir schon viel geholfen, aber hier sind ihr wohl grenzen gesetzt.
Nach meiner Erfahrung - und der meiner Frau, und der vieler Mitpatienten, die ich im Laufe der Jahre kennen gelernt habe - kann man Depressionen nicht 'wegreden'. Als Unterstützung finde ich Psyhotherapie schon wichtig (ich mache das ja nicht zufällig seit ewigen Zeiten ;-) Ist aber IMHO eher eine langfristige Angelegenheit, die in akuten Tiefs eher wenig nützt. Wennman so schlecht drauf vor sich hindämmert und eh' nicht aufnahmefähig ist... welchen Sinn soll es da machen, auch noch über Probleme zu reden, wenn man sie eh' schon bis zum Hals hat...

Jedenfalls bist du mit einem SSRI wieSertralin (Gladem, Zoloft, Sertralin Stada o.ä.) eigentlich gut aufgehoben. Und wenn es nicht wirkt - das kommt manchmal vor (dann wird ein anderes probiert), kann aber auch am verschreibenden Arzt liegen. Der häufigste Fehler, den ambulante Psychiater bei der Verschreibung von AD begehen, ist leider die Unterdosierung. Was wohl auch Kostengründe hat, weil das Zeug eben nicht ganz billig ist.

Zitat:
Zitat von arnika Beitrag anzeigen
vielleicht kann mir ja jemand ein spezielles präparat empfehlen?
Präparat nicht, aber Wirkstoffgruppe: bei den AD hat Patientin heute die Wahl zwischen trizyklischen Antidepressiva (TCA) und 'selektiven Serotonin (Noradrenalin)-Wiederaufnahmehemmern' (SSRI/SNRI). Erste wirkend meist sedierend, letztere agitierend, haben aber sehr viel geringere Nebenwirkungen. Psychiater verschreiben trotzdem gerne TCA, weil die sehr viel billiger sind als SSRI (meine Medikation belastet das Budget meines Psychiaters z.B. mit 100 EUR pro Monat - das wollen viele Ärzte nicht, und Allgmeinmediziner können es gar nicht). SSRI/SNRI haben anfangs den Nachteil, dass die agitierende Wirkung zu Erregungszuständen und Schlaflosigkeit führen kann. Das sollte sich aber nach einigen Wochen geben. Gegen Hitzewallungen hilft das Zeug allerdings auch nicht (zumindest nicht bei meiner Frau, die auch AHT und SSRI zusammen nimmt).

Zitat:
Zitat von Busenfreundin Beitrag anzeigen
Ich bin wirklich sprachlos
Dann will ich aber hoffen, dass dieser Zustand nicht lange anhält :-)

Nein, im Ernst: das hört sich jetzt so schlimm an, weil ich mal eben 25 Jahre in ein paar Zeilen komprimiert habe. Tatsächlichhatte ich auch gute Monate, zwischendurch sogar mal ein gutes Jahr. Und vieles war einfach Alltag und Routine. Der Mensch gewöhnt sich an vieles, wenn er muss. Ich kenne im Netz Leute, die sich seit Jahren nicht mehr trauen, ihre Wohnung zu verlassen - und die leben auch noch. Nur der 'level' ist anders. Halt nicht zwischen gut, normal und schlecht, sondern zwischen schlecht, ganz schlecht und absolut beschissen :-/ Aber daran gewöhnt man sich auch.

Viele Grüße,
Stefan
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