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Alt 28.06.2006, 21:30
Jörg46 Jörg46 ist offline
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HANDELSBLATT, Dienstag, 27. Juni 2006, 08:33 Uhr

Immunsystem wird ausgetrickst

Sanftere Chemotherapie

Von D. von Richthoven

Medizinforscher entwickeln Strategien, mit denen sie bei der Krebsbehandlung die Auswirkungen einer Chemotherapie lindern können. Gentechnisch veränderte Zellen aktivieren dabei die Wirkstoffe erst in direkter Nähe zum Tumor.

DÜSSELDORF. Dabei setzen sie auf gentechnisch veränderte Zellen oder spezialisierte Gewebezellen, die Wirkstoffe am Ort des Geschehens herstellen können. Diese wirken wie Medikamentenfabriken mit der Produktionsstätte direkt im Körper. Doch häufig erkennt das Immunsystem die Helferzellen als Fremdkörper und greift sie an. Forscher der österreichischen Biotech-Firma Austrianova haben daher eine Kapsel aus Zellulose entwickelt, die die Zellen wie eine Tarnkappe vom Immunsystem abschirmt und trotzdem einen Stoffaustausch zwischen Zellen und Organismus zulässt.
Als erste Anwendung ist die Therapie von Bauchspeicheldrüsenkrebs vorgesehen. Klinische Studien dazu waren viel versprechend. Jetzt hat die Firma in Zusammenarbeit mit Miltenyi Biotec aus Bergisch Gladbach die Produktion der Novacaps getauften Zellkapseln im industriellen Maßstab etabliert. Für Anfang 2007 ist der Beginn der Phase-III Studien vorgesehen.
„Die Kapseln enthalten gentechnisch veränderte Zellen, die die Vorstufe des Krebsmedikamentes Ifosfamid in den aktiven Wirkstoff umsetzen“, erklärt Brian Salmons, Geschäftsführer von Austrianova. Dieses so genannte Prodrug wird normalerweise erst von einem Enzym in der Leber aktiviert. Auf dem Weg zur Bauchspeicheldrüse zerfällt jedoch der Großteil des Wirkstoffes. Deshalb ist bei der Standardtherapie eine extrem hohe Dosis nötig. Starke Nebenwirkungen sind die Folge. Die Lösung der Forscher: Sie verlagern die Aktivierung der Krebsmedikaments in direkte Tumornähe. Dazu statten sie ihre Zellen mit dem Gen für das nötige Leberenzym aus, verpacken diese in die Zellulosekapseln und bringen sie in die Blutgefäße ein, die zum Tumor führen.
Ein spezialisierter Operateur führt dazu einen Katheter durch ein Blutgefäß im Bein bis in die Arterie, die die Bauchspeicheldrüse mit Blut versorgt. Die Novacaps werden vor dem Tumor abgesetzt. Der Blutstrom spült die Mikro-Fabriken dann in die sich verjüngenden zuführenden Gefäße, bis sie stecken bleiben und so vor Ort verankert sind. Dann verabreichen die Mediziner per Infusion die Vorstufe des Chemotherapeutikums. Wird das Medikament vom Blutkreislauf in die Bauchspeicheldrüse gespült, muss es durch die Kapseln – und wird von den Zellen aktiviert.

Studien bestätigen, dass dieser Trick funktioniert. „Das Immunsystem der Patienten zeigte keinerlei Abwehrreaktionen auf die Zellkapseln“, sagt Matthias Löhr vom Universitätsklinikum Mannheim, der an der Entwicklung der Novacaps und an den klinischen Studien beteiligt war. Nach der Einpflanzung der Kapseln gaben die Mediziner lediglich ein Drittel der gängigen Ifosfamid-Dosis. „Wegen der niedrigen Konzentration gab es diesmal kaum Nebenwirkungen“, berichtet Löhr.
Ungeachtet der guten Resultate wurden die Prüfstudien aber zunächst eingestellt. Die Produktion der Kapseln auf Basis von Baumwoll-Zellulose erfüllte nicht die Standards der Good Manufacturing Practice (GMP) – ein Problem, das bei biologischen Komponenten häufig auftaucht. Die Hersteller biologischer Pharmaprodukte kämpfen mit Verunreinigungen und Schwankungen in den Produktchargen. Diese Schwierigkeiten hat Austrianova nach eigenen Aussagen nun gelöst.
Löhr erforscht inzwischen in einem Projekt mit der deutschen Biotech-Firma Cellmed weitere Methoden der Zell-Verkapselung. Dort setzt man auf Hüllen aus Alginat, einem Biopolymer aus Braunalgen. Um die Machbarkeit der Methode unter Beweis zu stellen, haben die Forscher Zellen aus der Nebenschilddrüse von Spendern in Alginat-Kapseln verpackt und dann Patienten eingepflanzt, die an einer Unterfunktion der Nebenschilddrüse litten. „Wir haben so ein voll funktionsfähiges künstliches Organ geschaffen“, fasst Peter Geigle, Geschäftsführer von Cellmed, die Ergebnisse zusammen. Das Immunsystem habe die körperfremden Zellen gut toleriert, die eingepflanzten Zellkapseln hätten wie eine Nebenschilddrüse funktioniert.
Als nächstes plant Cellmed eine Implantation von Zellkapseln ins Gehirn. Dort sollen die Zellen einen Botenstoff freisetzen, der den Zelltod verhindert. Längerfristig denke man auch an eine Therapie für neurodegenerative Krankheiten. Doch die breite klinische Entwicklung der Verkapselungstechnologie will das Unternehmen großen Pharmafirmen überlassen. „Dazu haben wir schon erste Lizenzabkommen geschlossen“, sagt Geigle.
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