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Alt 05.12.2016, 19:38
Dream Dream ist offline
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Standard AW: Lymphdrüsenkrebs mit 81

Liebe Chrigele

Danke für Deine Worte. Meine Großmutter wurde 98. Kurz davor fragte ich sie, ob sie 100 werden will. Sie sagte Nein. Es scheint bei vielen in dem Alter so zu sein, dass sie einfach nicht mehr wollen. Bei meiner Mutter ist es jetzt ähnlich. Für sie wäre es ein Alptraum, noch 10 Jahre zu leben. Nicht wegen des Leids, sondern weil sie einfach genug hat vom Leben hier. Aber sie glaubt ohne jeden Zweifel an ein Weiterleben nach dem Tod, so wie ich auch. Wir haben unsere spirituellen Erfahrungen gemacht im Leben, bereits Angehörige sterben sehen. Meine Mutter war außerdem in späteren Jahren noch in der Altenpflege tätig, nachdem sie ihren eigentlichen Beruf in der Selbständigkeit aufgab. Sie hat - wie auch meine Schwester, die ebenfalls in der Altenpflege arbeitet, dies schon sehr lange - viele Menschen sterben sehen. Meine Mutter erlebte den Tod als etwas Natürliches, sah beide Eltern zuhause sterben, ihre Mutter hatte ebenfalls Krebs, einen Hirntumor, an ihr wurden die ersten Hirnoperationen ausgeführt. Meine Mutter wuchs von klein an mit einer hirnkrebskranken Mutter auf. Es ist also nichts Fremdes für sie, eigentlich.

Und doch ist es natürlich nochmal etwas Anderes, die ganze Palette der Symptome an sich selbst zu erleben, sich auf einmal so geschwächt zu fühlen, nicht mehr richtig gehen zu können, wo man doch ein ganzes Leben lang so viel gearbeitet hat, immer auf den Beinen, stets strebsam und fleißig. Dass auf einmal dieser "Motor" nicht mehr will, löst Bestürzung aus. Die Kontrolle über sich und das Lebensumfeld schwindet. Auf einmal muss man anderen vertrauen, wird abhängig, ist nicht mehr eigenständig. Und trotzdem versuchen wir auch das aus Gottes Händen zu nehmen, um zu lernen, Gott in allem vollends zu vertrauen, IHN zu spüren in aller Schwachheit, gerade da Gottes Gegenwart zu spüren, an der Krankheit spirituell zu wachsen. Irgendwie und an irgendetwas sterben wir alle. Gott hat es zugelassen und meine Mutter so geführt, wir nehmen es an. Ich weiß, dass es weitergeht. Ihre Seele ist bereits jetzt im Himmel, sie wird nur ihren Körper abstreifen wie eine Raupe zum Schmetterling wird und die Puppenhülle nicht mehr braucht. Deshalb fürchtet sich meine Mutter nicht vor dem Tod, in keinster Weise. Es ist eher dieses Ausgeliefertsein an den Krankheitsprozess und die dunklen Erinnerungen, die auftauchen und sie stark beschäftigen, mein Bruder und seine harten Worte, sein Nichthelfenwollen, obwohl meine Mutter auch für ihn - den Stiefsohn - viel getan hat, immer für ihn da war. Es ist traurig, tatsächlich als Last empfunden zu werden, nicht für mich, aber für ihn. Es kommt mir echt so vor, als würde er nur auf ihren Tod warten. Und trotzdem wären wir gerade auf seine Hilfe so sehr angewiesen. Es wäre so leicht für ihn, er hat genug Geld. Er sieht so wenig meinen Anteil in Taten, wie ich für sie da bin und sie pflege, dass es selbstverständlich sein sollte, etwas zurückzugeben, aus Liebe. Ich kann nicht verstehen, warum er so wenig Liebe in sich hat. Meine Mutter war ihm eine gute Mutter, hat ihn als 3-Jährigen angenommen, war immer für ihn da, er kam auch immer zu ihr, sie war seine Bezugsperson und er war alles andere als leicht verträglich in seinen Krisen. Und trotzdem ist da jetzt so wenig Dankbarkeit in ihm. Das ist bitter.

Ich glaube nicht, dass meine Mutter eine Chemotherapie machen wird, auch wenn man sie medizinisch dazu ermutigen würde. Es wär einfach schön, wenn sie sich wieder etwas erholt und wir noch für eine Weile ihren Lebensabend genießen könnten, bevor sie als Seelenschmetterling die Reise in den Himmel antritt. Ich werde so oder so immer mit ihr verbunden sein, so wie ein Teil von mir bei meinem Vater ist, der schon vor 20 Jahren starb. Wir träumten das alles voraus. Es hat alles seinen Sinn. Das weiß ich, deshalb werde ich es diesmal nicht so schwer nehmen wie damals bei meinem Vater, wo ich noch jung war und den Tod verdrängte und noch nicht damit umgehen konnte. Jetzt bin ich selbst schon fast 50. Es wird aber mein Leben verändern bzw. es tut es schon. Ich mache diesen Prozess meiner Mutter mit, fühle mich ähnlich, baue ebenfalls vieles ab, räume, werfe weg, will mein Leben regeln, vereinfachen, reisefertig werden für ein Drüben. Ich setze andere Schwerpunkte, manches relativiert sich, vor allem Besitz ist weniger wichtig. Ich - wir - möchten mobil sein, das Haus verkaufen, alles vereinfachen, damit es wieder bewältigbarer wird. Ich esse sogar ähnlich wie meine Mutter, ich nehme ab, da ich auch ihre Arbeit zusätzlich mache.

Ja, ich halte die Tür offen, wenn meine Mutter gehen will. Allerdings wird es kein Exit sein bei ihr. Sie möchte keine Sterbehilfe haben, sondern einfach natürlich sterben, ohne medizinische Maßnahmen der Lebensverlängerung. Sie vertraut dem natürlichen Prozess. Mit 81 würde ich es vielleicht auch so machen. Vor allem weiß ich schon jetzt, dass ich mich selbst rechtzeitig in einem Heim versorgen will, damit alles geregelt ist. Ich möchte nicht von Verwandten abhängig sein. Die Kinder, die ich großgezogen habe, können nicht leisten, was ich jetzt tue für meine Mutter, auch wenn sie wirklich lieb sind. Doch war ich immer stark für sie, sodass sie zu mir kommen mit ihren Problemen. Sie sind psychisch nicht so belastbar. Ich dagegen war immer ein spirituell denkender Mensch und deshalb auch fähig, damit umzugehen, ohne daran kaputtzugehen. Wir haben auch schon davor immer offen über den Tod gesprochen, unseren Lebenssinn im Kontext der Sterblichkeit definiert. Gleichzeitig kämpfte ich gegen den Tod, weil meine Schwester jahrelang suizidal war. Deshalb vielleicht kann ich es doch nicht so leicht hinnehmen. Ich bin programmiert, Menschen vor dem Tod zu retten. Auf einmal muss ich lernen, den Tod als sinnvoll wahrzunehmen. Das fällt mir schwer, auch wenn ich genug Spirituelles erfahren habe, um ein Weiterleben intuitiv wahrzunehmen. Ich bin über mich selbst erstaunt, dass ich immer noch zu wenig reif bin, obwohl ich so viel Spirituelles erlebt habe. Da kann ich sicher noch durch meine Mutter lernen. Man kann nichts mitnehmen, sagte sie mir. Ich habe meine Mutter immer für ihre Umsetzungskompetenz bewundert. Ihr geliebter Enkel war heute bei ihr, er ist jetzt 22. Er war schon als Kind derart abgeklärt, auch was den Tod betrifft. Wie meine Mutter hat er ein Vertrauen ins Leben und auch den Tod. Ich dagegen will immer die Kontrolle behalten, gerade über den Tod, weil ich meine Schwester so oft vor dem Suizid bewahren musste. Irgendwie scheint mir dadurch der natürliche Umgang mit dem Tod abhanden gekommen zu sein, obwohl auch ich schon als Kind mit dem Tod in Berührung kam und gerade da ein besonderes Gespür hatte. Ich sah schon als 7-Jährige eine mir sehr nahestehende Frau sterben, ich sang an ihrem Sterbebett das Lied, das sie sich wünschte. Ich fühlte ihren Tod und auch ihr Weiterleben. Irgendwie mach ich mir Vorwürfe, weil ich jetzt nicht bereit bin, nicht reifer bin.

Ich umarme Dich!
Dream
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LG Dream

Geändert von Dream (06.12.2016 um 19:57 Uhr)