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Alt 05.12.2013, 10:49
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HelmutL HelmutL ist offline
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Standard AW: Hinterblieben, nur wo?

Guten Morgen,

es ist richtig, dass es einerseits eine Menge Parallelen zwischen verschiedenen Arten der Trauer gibt, doch auch kleine Unterschiede. Über Parallelen kann man reden, in die Unterschiede sich vielleicht hineindenken.

Verwandtschaft: klar, je enger die Verwandtschaft, umso größer die eigene Betroffenheit. Viel wichtiger als das ist jedoch die emotionale Verbundenheit, eine Seelenverwandtschaft, mit und die Liebe zu dem Verstorbenen. Diese Verbundenheit ist ein Grund für die eigene Trauer. Wobei ... Geschwister, Eltern, Oma und Opa "muss" man ja nicht lieben. Deshalb auch Seelenverwandtschaft, was auf ein Ehepaar ja wohl ebenfalls zutrifft. Beispiele dazu gibt es genug.

Identität: Wir definieren uns bei weitem nicht alleine durch uns selbst, sondern in besonderem Maße auch durch unser Umfeld: Familie, Freundes- und Bekanntenkreis, die Arbeitsstelle und die Menschen dort usw. Unser Umfeld prägt uns, bestätigt uns und gibt uns Sicherheit. Unser Umfeld und unser Selbstwertgefühl sind voneinander abhängig, beeinflussen sich und versuchen, sich möglichst im Gleichgewicht zu halten. Ein labiles Gleichgewicht. Ich meine, Umfeld plus Selbstwertgefühl ist gleich Identität. Stirbt nun ein Mensch, der einem emotional sehr nahe steht, so gerät dieses Gleichgewicht gehörig in Schieflage und das ist ein sehr wichtiger und ein weiterer Grund für unsere Trauer.

Ursprung: Wo komme ich her? Wer oder was bin ich? Innerhalb der Familie sind Eltern, Geschwister, die Großeltern sehr wichtige Zeugen des eigenen Ursprungs. Zusammen mit Partnerin oder Partner sind das alles Zeugen dessen, wo wir her kommen und was und wer wir heute sind. Unser Ursprung ist sehr wichtig für unser Selbstwertgefühl und tut sich da eine Lücke auf, so gerät unser Weltbild und dessen persönliches Verständnis gehörig ins Wanken.

Vergangenheit: alle Menschen, die wir kennen und/oder lieben sind auch Teil unserer Vergangenheit. Im Normalfall erinnern wir uns gerne an unsere Vergangenheit. Stirbt nun ein nahestehender Mensch, so wird die Vergangenheit zur Qual. Man hat mit diesem geliebten Menschen "nur" noch Vergangenheit und weder Gegenwart noch Zukunft mehr. Diese Vergangenheit wird betont durch einen sehr schmerzhaften, sehr oft unfassbaren Paukenschlag und unsere Erinnerung wird zunächst genau darauf fokussiert.

Vergangenheit kann man nicht verlieren: sie ist. Man kann sie verbergen oder verdrängen, sie ist jedoch unveränderbar. Man kann lediglich die Sichtweise verändern. Sie ist das einzige Verlässliche in unserem Leben. Was verloren geht, ist die trügerische Sicherheit der Kontinuität, mit der die Vergangenheit nahtlos und unverändert über die Gegenwart in die Zukunft gleitet. Vor allem da, wo es sich um geliebte Menschen handelt.

Vergangenheit, Ursprung und Verwandtschaft kann man nicht verändern. All das ist. Doch an dem Verständnis davon, daran kann man arbeiten. Für ein weiteres gutes und glückliches Leben heißt das, zu verstehen und zu akzeptieren. Das sollte das Ziel sein. diese Dinge anzunehmen, sich mit ihnen zu versöhnen und sie auch in die weitere Zukunft mit hinüber retten. Mit einem Ausrufezeichen.

Diese Aufzählung ist ganz sicher bei weitem nicht vollständig. Es gibt noch viele weitere Faktoren. Doch sie führen mich zu folgendem Schluss:

Ursprung, Verwandtschaft und Identität sind die Dinge, die nur uns selbst betreffen. Die Trauer um uns selbst. Ursprung und Verwandtschaft sind, wie gesagt, nicht veränderbar, die Identität hingegen schon. Sie hat sich nämlich bereits verändert durch das Umfeld, denn obige Gleichung stimmt nicht mehr. Nun gilt es, das eigene Selbstwertgefühl aufzufüllen, um das für das Leben notwendige Gleichgewicht wieder herzustellen. Das ist etwas, was wir für uns tun. Unsere Trauer um das, was wir verloren haben.

Die Trauer um den oder die Verstorbene/n ist in der Vergangenheit begründet. Unser Leben bliebe grau. öd und sinnlos, wenn wir, verständlicherweise, das Unmögliche verlangen: "Komm zurück!" Unser Ziel sollte es vielmehr sein, unsere Verstorbenen in die Gegenwart zu integrieren und für die Zukunft zu bewahren auf dem Platz, der ihnen gehört: "Schade, dass du das nicht mehr erleben kannst."

"Schade, dass du das nicht mehr erleben kannst."

Dieser Gedanke ist dann möglich, wenn im eigenen Leben wieder was "erlebenswertes" passiert. Zufriedenheit und glückliche Momente. Für mich "der" Schlüsselgedanke vor fast einem Jahr. Die Geburt meiner dritten Enkelin. Bereits zuvor gab es ähnliche Momente, sie waren mir nur nicht bewusst in dem Sinn. Das Glück, zum dritten Mal Opa zu werden und im gleichen Atemzug dieser traurige Gedanke. Das ist die Trauer um das, was Myriam verloren hat. Nicht ich. Ich habe dabei etwas ganz Großes gewonnen und genieße es. Ich darf es. Und vieles andere mehr. Diesen Gedanken hatte ich noch oft und er wird mich begleiten, solange ich lebe. Das ist die Trauer um, für und wegen Myriam, die zu einem verlässlichen Freund geworden ist. Sie verhindert keineswegs ein glückliches Leben. Im Gegenteil, das Glück ist viel intensiver und bewusster.


Einen schönen Tag,

Helmut
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